in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 3/1985 vom 15. Januar 1985, S. 87-89Sie ist schon erstaunlich, diese Lauferei. Da treffen wir, Schreibtischarbeiter in Japan auf Zeit, schon auf Tokios Nordbahnhof in Ueno am Tage vor dem Lauf in großen und kleinen Gruppen jene, denen wir am Start in Shiobara dann am nächsten Morgen um 9 Uhr mit standesgemäßem Lampenfieber wiederbegegnen sollen.

Adolphi 1985: Jogging in Shiobara

Jogging in Shiobara

von Wolfram Adolphi (Tokio)

in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 3/1985 vom 15. Januar 1985, S. 87-89

Sie ist schon erstaunlich, diese Lauferei. Da treffen wir, Schreibtischarbeiter in Japan auf Zeit, schon auf Tokios Nordbahnhof in Ueno am Tage vor dem Lauf in großen und kleinen Gruppen jene, denen wir am Start in Shiobara dann am nächsten Morgen um 9 Uhr mit standesgemäßem Lampenfieber wiederbegegnen sollen.

Sie auszumachen unter den Zehntausenden, die sich stündlich auf diesem S- und Fernbahnhof mit über 20 Bahnsteigen drängen, ist so schwer nicht. Selten reisen die Japaner mit großem Gepäck, die geringe Zahl der Urlaubstage lässt ausgedehnten Fahrten wenig Raum, und weil das schon immer so ist, gibt’s auch kaum Platz im Zug für große Koffer und Taschen. Also ist der Trainingsanzug schon vor Beginn des Laufwochenendes an das praktischste und angemessenste. Um so größer der Kontrast mit dem allgegenwärtigen Dunkelblau oder Anthrazit der korrekten Anzüge um uns herum, mit den vielen streng-adretten Firmenkostümen und immer ein wenig konservativen Kleidern, die das Bild auch dieses Arbeitstages Sonnabend bestimmen.

Aber die Läufer sind ganz auf Freizeit eingestellt und auf das kommende Ereignis. Man kennt sich in den Laufgruppen, hat die Abzeichen seines Stadtbezirks oder der Universität oder des Betriebes auf Brust, Rücken und Ärmeln, gibt mit alten Startnummern auf Jacken und Rucksäcken Abgeklärtheit und mit Mützen und Stirnbändern Schwitz-Erfahrung zu erkennen und ist bereit zum lebhaften Gespräch. Auch im Trainingsanzug hat man für Fremde die niemals fehlenden Namenskärtchen dabei, das Vorstellen geschieht auch jetzt formvollendet, aber der Lärm im Wagen ist schon ein bisschen unüblich. Da es freundlich zugeht, erdulden’s auch die, die sonst in solchen Zügen bei aller unvermeidlichen Fülle lethargische Ruhe gewöhnt sind.

In Nishi-Nasuno, Station auf der nordwärts führenden Tohoku-Linie, stehen Ordner – natürlich im Trainingsanzug – an Bahnsteig und Treppe und weisen uns zu einem Sonderbus, der uns hineinbringt in die Berge des Nikko-Nationalparks. Nikko selbst, Perle der Tempelstädte der Tempelstädte des Tokugawa Ieyasu, Shogun im frühen 17. Jahrhundert, liegt ein Stück entfernt. Das Gebirge steigt wie fast überall in Japan aus der Ebene unvermittelt an auf über 2000 Meter Höhe. Die Straße ist eng gewunden, die Hänge sind steil. Ein wirklich reißender Gebirgsfluss macht’s der Straße schwer, über Winter und Frühjahr zu kommen. Dann ein paar an den Hang oder zwischen Straße und Fluss gezwängte Häuser – das ist schon Shiobara.

Touristenprospekte werben für eine Pferdekutschenfahrt im romantischen Tal, in dem es im zeitigen Frühjahr die Pflaumenblüte gibt und im Herbst eine unvergleichlich schöne Laubfärbung. Aber wir sind ja zum Laufen gekommen, wollen die Schönheit in der Anstrengung genießen. Der Bus hält vor ein paar jahrmarkttypischen Zelten. Schnell und freundlich wird die Anmeldekarte gegen Startnummer und Teilnehmerliste eingetauscht. Ein Stirnband gibt’s als Geschenk, als „presento“. Eine Erinnerungsmedaille mit viel Glanz und attraktivem Halsband kann man schon im Voraus kaufen. Dann bringt und sein Kleinbus zur Pension „Matsuya“ – vielleicht mit „Zur Kiefer“ zu übersetzen –, wo uns ein Zimmer reserviert wurde.

Fast alle Häuser des Ortes sind solche „Ryokan“, kleine und größere Herbergen im japanischen Stil. Eine andere Erwerbsquelle als den Tourismus gibt es zwischen den schroffen Hängen nicht, und dafür ist ja auch der Lauf organisiert: um den Fremdenverkehr in gewinnträchtigem Schwung zu halten. Und tatsächlich sind es 3500, die sich am nächsten Morgen dem Starter stellen. Erst aber wird, bevor es richtig losgeht, zwei Stunden lang Atmosphäre erzeugt. Eröffnungsreden werden gehalten vom Bürgermeister und vom Chef der lokalen Polizeibehörde, ein Teilnehmer spricht das Fairness-Gelöbnis, für eine Viertelstunde vereint sich alles in selbstverständlicher Ordnung zur Gymnastik.

Der Streckenverlauf wird geschildert, Verpflegungspunkte werden genannt. Man versucht, sich beim Erwärmen nicht gegenseitig zu stören, kann aber und will ja auch gar nichts dagegen tun, dass man immer wieder angesprochen wird – ganz unauffällig geht’s nicht für die kaum 15 Ausländer, und vielen der japanischen Teilnehmer ist es ein internationales Erinnerungsfoto wert, die oft geübte Zurückhaltung zu überwinden und ein Gespräch zu versuchen. Das bevorstehende gemeinsame „Schindern“ lässt die Hemmschwelle für solche spontanen Kontakte rasch sinken, und mancher wagt eine Probe seiner Englischkenntnisse.

Als der Starter dann das 20-Kilometer-Feld zusammenruft, ist es ein Bild wie beispielsweise bei unserem Rennsteiglauf: es dominieren die nicht mehr ganz jungen Jahrgänge, und jede Illusion, mit seinen knapp vierunddreißig den Mittfünfzigern die Hacken zeigen zu können, wird rechtzeitig zerschlagen. Die Sieger sind sehr schnell, für die Mehrzahl geht’s vor allem ums – freilich nicht unvorbereitete – Mitmachen. Da spring am Ende – als Lohn für nicht ganz unregelmäßiges Training – ein Mittelplatz heraus. An Anfeuerung auf der Straße mangelt es nicht: Ganz Shiobara und Hunderte Familienangehörige haben sich versammelt, schwenken Fähnchen mit Zeitungs- und Turnschuhreklame, und die „Matsuya“-Besatzung kennt natürlich „ihre“ Läufer und macht lautstark auf sich aufmerksam. Die Siegerehrung ist feierlich wie die Eröffnung. Zum Bahnhof zurück fährt man wie mit alten Bekannten.

Drei Wochen später bringt die Post die Ergebnislisten. Und Werbeformulare für die nächsten Läufe. Eine Spezialzeitschrift veröffentlicht die Programme aller Volkssportläufe im ganzen Land. Keine dieser Veranstaltungen wird über Teilnehmermangel zu klagen haben. Motive fürs Laufen gibt es viele: handfeste, wie die Reduzierung der Arztkosten, aber ganz bestimmt auch das des gemeinsamen Erlebnisses. So ist nicht abzusehen, dass die Zahl derjenigen abnehmen wird, die Tag für Tag in der Mittagspause oder am Abend Tokios bekannteste Trainingsstrecke – das 5-Kilometer-Rund um den Kaiserpalast direkt im Zentrum der Hauptstadt – bevölkern.