von Wolfram Adolphi (Tokio)in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 12/85 vom 19. März 1985, S. 372-373Natürlich haben die Götter vor das Fahren der Nudeln erst einmal ihre Produktion gesetzt. Und zuallererst ist es diese, die die Bezeichnung „Kunst“ verdient, denn: es geht um japanische Nudeln. Gebilde von – im wahrsten Sinne des Wortes – Ellenlänge, rund oder quadratisch oder flach rechteckig im Querschnitt, mit keiner Gabel zu bändigen, nicht nach Spaghettiart zu wickeln oder wie Makkaroni zu zerstückeln.

Adolphi 1985: Nudel-Künste

Nudel-Künste

von Wolfram Adolphi (Tokio)

in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 12/85 vom 19. März 1985, S. 372-373

Natürlich haben die Götter vor das Fahren der Nudeln erst einmal ihre Produktion gesetzt. Und zuallererst ist es diese, die die Bezeichnung „Kunst“ verdient, denn: es geht um japanische Nudeln. Gebilde von – im wahrsten Sinne des Wortes – Ellenlänge, rund oder quadratisch oder flach rechteckig im Querschnitt, mit keiner Gabel zu bändigen, nicht nach Spaghettiart zu wickeln oder wie Makkaroni zu zerstückeln. Nudeln, die ein ungebrochenes Dasein lieben. Nudeln die die Existenz der Essstäbchen erst richtig begreiflich machen – was indes den Umgang weder mit den Stäbchen noch mit den Nudeln erleichtert.

Denn was da unter den Namen Soba, Ramen, Udon oder Kishimen seit etwa 400 Jahren vornehmlich aus Reis- und Buchweißenmehl gewalzt und geknetet und wieder gewalzt und schließlich gerollt und geschnitten wird, kommt vorzugsweise gänzlich unhandhabbar auf den Tisch: als kochendheiße Suppe in terrinengroßen Tonschüsseln oder als Nudelberg im Seiro, einem quadratischen Holzgefäß mit dampfdurchlässigem Bambusmättchen als Boden. Die Suppe, versehen mit einem den Rahmen jeder mitteleuropäischen Speisekarte sprengenden Zutatenallerlei vom Seetang bis zum Wachtelei und von der Mini-Languste bis zum gewöhnlichen Stück Schweinefleisch, ist die schnelle Alltagskost der kleinen Gaststätten, die für Hunderttausende von Büroangestellten in Tokio die Rolle von Betriebskantinen spielen.

Die „blanken“ Nudeln geben sich ein wenig aristokratischer: die Zutatenfülle präsentiert sich hier in verschiedenen Schüsselchen und Förmchen, und die ganze Nudellänge will erst durch eine Spezialsoße gezogen werden. Aber da kommt man schon zur Kunst des Nudelessens, und zuvor soll ja von der des Nudelfahrens die Rede sein. Weil: Man kann sie sich kommen lassen, die Nudeln, aus den Sobaya, den kleinen Nudelkneipen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wenn in einer dieser Kneipen das Telefon klingelt – allein in Tokio gibt es dieser Sobaya Tausende -, mixen die drei, vier Mann, die meist hinter dem barähnlichen Tresen stehen, so ziemlich jede denkbare Nudel-Fisch-Fleisch-Gemüse-Meerespflanzen-Suppe. Das ist Minutensache. Und blitzschnell ist die Suppe transportgerecht in den Schüsseln.

Transportgerecht? Der traditionelle Nudelfahrer braucht nichts weiter als ein paar Tabletts. Eines mit drei oder vier Schüsseln für den ersten Kunden. Ein weiteres mit gleicher Schüsselanzahl, auf die Gefäße des ersten Tabletts gestellt, für den zweiten. Und, wenn es sich um Extrakönner handelt, ist auch ein drittes Tablett nicht ausgeschlossen. Das alles auf eine Schulter, eine Hand als Unterstützung, die andere an den Fahrradlenker. Und was dann geschieht, wird jeder, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, ins Reich der Legende verweisen oder mit „Na ja, die Japaner“ abtun.

Fahrradfahren auf den großen Straßen – das ist Balanceakt mit kühnen Überholmanövern und Schlängeleien durch ein oft stehendes oder sich langsam dahinwälzendes Automeer. Wo die Autos zu schnell sind, bleibt erlaubtermaßen der Fußweg. Der aber hat meist nur Pärchenbreite. Und Fahrrad in den Gassen – das ist erst recht die Kunst des Vorbeikommens. Vorbeikommen an Autos, die zentimetergenau parken, an Leitungsmasten aus Beton, die immer irgendwie im Wege stehen, weil die assen ja ohne Unterbrechung von Häusern gesäumt werden; vorbeikommen auch an ambulanten Gemüse- und Fischändlern, die wegen ihrer Vorzugspreise umlagert sind, an Freiluftauslagen der Lebensmittel- und Haushaltswarenläden, die um Kundschaft werben, und manchmal an kleinen Karren, die ihrerseits wieder kleine Nudelkneipen darstellen.

Da nehme niemand an, die Gassen seien das Seltene. Ganz im Gegenteil. Sie vor allem sind Tokio. Sie sind dörflichste Atmosphäre unmittelbar neben den Geschäftszentren und unter den Hochstraßen. Das winkelt und verzweigt sich zwischen den Holzhäuschen und kleinen, maßgeschneiderten Betonbauten für drei oder vier Familien, dass jeder Gedanke an Großstadt verschwindet. Da wartet man in Latschen und Kimono vor der Tür auf die bestellte Nudelmahlzeit, macht einen Schwatz mit der Nachbarin von gegenüber, der gar nicht laut sein muss wegen der paar Schritte von einer Seite zur anderen, und gießt die Blumentöpfe vor der Tür, die auf dem Asphalt stehen.

Natürlich gibt’s – schon wegen der Berge – auch den motorisierten Nudelfahrer. Die Tabletts mit den Schüsseln stehen auf einem frei schwingenden Holzbrett mit gefederter Dreipunktaufhängung dort, wo sich sonst der Gepäckträger befindet. Eine per Gummiband gestraffte Plane über den Schüsseln, die ohnehin noch mit einem Steingutdeckel versehen sind, verhindert das Überschwappen. Die Geschwindigkeit ist höllisch, die Kurvenlage gewagt. Noch immer fahren die Könner dieses „Sports“ fast ein Uralt-Modell: „Supercub 50“ von Honda. Die Nudelkneipen sorgen mit dafür, dass das bewährte Gefährt in der Produktion bleibt – zuverlässige Robustheit, die sich gegen allen übertriebenen modeabhängigen Veränderungswettlauf auf dem Kleinrollermarkt behauptet.

Die Kunst des Nudelessens nun besteht vor allem darin – wenn die Stäbchen erst einmal als Greifwerkzeuge beherrscht werden –, gegen alle mitteleuropäischen Regeln zu schlürfen. Nur dann gibt’s keine Flecken durch unbändige Nudelenden, und nur dann wird man der Hitze der Suppe Herr. Und dann ist das Nudelessen der reine Genuss. Die meisten der 120 Millionen Japaner tun’s täglich.

Konkurrenz für die Nudelartisten: „Cup-Noodle“, die Instantnudeln im Schaumstoffbecher, wo heißes Wasser, von jedem Laien aufzugießen, genügt, um auf den Anruf in der Kneipe verzichten zu können. Aber noch sieht es nicht so aus, als ob sie die Nudelfahrer verdrängen könnten.