in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 48/85 vom 26. November 1985, S. 1522-1525Philipp Franz von Siebold (1796-1866), als deutscher Arzt in holländischen Diensten durch seine Japan-Beschreibungen berühmt geworden, nennt in den Tagebüchern seiner ersten Reise von Nagasaki zur Hauptstadt Edo – dem heutigen Tokio – im Jahre 1826 den Namen Ko Riosai. „Er war“, so Siebold, „ein junger Arzt aus Awa auf Shikoku und befliss sich vorzüglich der Augenheilkunde.“ Und weiter: „Ich zählte ihn unter meine eifrigsten Schüler.“

Adolphi 1985: Tokioter Charité-Spuren

Tokioter Charité-Spuren

von Wolfram Adolphi (Tokio)

in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 48/85 vom 26. November 1985, S. 1522-1525

Philipp Franz von Siebold (1796-1866), als deutscher Arzt in holländischen Diensten durch seine Japan-Beschreibungen berühmt geworden, nennt in den Tagebüchern seiner ersten Reise von Nagasaki zur Hauptstadt Edo – dem heutigen Tokio – im Jahre 1826 den Namen Ko Riosai. „Er war“, so Siebold, „ein junger Arzt aus Awa auf Shikoku und befliss sich vorzüglich der Augenheilkunde.“ Und weiter: „Ich zählte ihn unter meine eifrigsten Schüler.“

So begann ein an großen Namen reiches Zusammenwirken deutscher und japanischer Mediziner. Von 1884 bis 1888 studierte Mori Ogai, 22jährig als Hygieniker nach Berlin gekommen und heute vor allem als Dichter, Philosoph und einer der großen Repräsentanten der geistigen Öffnung Japans in der Meiji-Zeit (1868-1912) geehrt, in Deutschland. Bei Robert Koch arbeitete von 1885 bis 1892 Shibasaburo Kitasato, später Begründer der japanischen Bakteriologie, dem in den Berliner Labors die Isolierung des Tetanus-Bazillus gelang. Paul Ehrlich wusste um die Jahrhundertwende bei der Suche nach einer wirksamen Methode der Syphilis-Bekämpfung mit Sahachiro Hata einen Schüler an seiner Seite, der mit der Entwicklung des Medikaments Salvarsan seinem Lehrer bald ebenbürtig wurde.

Namen und Zahlen, die Professor Ikuo Ishiyama bei unserem Gespräch in der Tokio-Universität offensichtlich abrufbereit im Gedächtnis hat. Das ist für mich, nachdem ich Bekanntschaft schließen konnte mit anderen japanischen Lehranstalten und Forschungseinrichtungen, so überraschend nicht. Denn es fällt auf, wie ausdrücklich die Geschichte der Universität, des Instituts, der Schule in Galerien von Erinnerungsfotos, Porträtplastiken, Traditionsecken und gedruckten Dokumentationen bewahrt wird. Da geht es nicht notwendig bewusst um größere historische Zusammenhänge. Meist glaubt man einfach die jahrhundertealte Art der Ahnenverehrung zu spüren, die mit den Lehren des Konfuzius zu tun hat und mit dem shintoistischen Glauben.

Aber was vermag diese Verehrung bis heute Erstaunliches hervorzubringen an Bindung des einzelnen an seine Universität, seinen Betrieb, seine Firma? Und wie sehr kann diese Verehrung den Lehrer einschließen und damit doch wieder ganz lebendige Geschichte werden?

Professor Ishiyama, mein herzlicher Gastgeber, zum Beispiel ist Japans führender Gerichtsmediziner. Für ihn beginnt die Reihe seiner Vorgänger und Lehrer – das Foto in seinem Arbeitszimmer ganz links, dem Fenster am nächsten, macht es dem Besucher gleich augenfällig – mit Kuniaki Katayama. Dieser war Begründer und erster Direktor des gerichtsmedizinischen Instituts der ehemaligen Kaiserlichen und heutigen Tokio-Universität, der damals wie heute ersten Bildungsstätte des Landes. Katayama präsidierte von 1888 bis 1921. Zuvor hatte er, von 1883 bis 1886, in Berlin und in Wien studiert, bei den Professoren Riemann, Kasper und Hoffmann.

Die Entscheidung, Katayama nach Deutschland zu schicken, war, so erzählt Professor Ishiyama im gut verständlichen Deutsch der traditionell gebildeten japanischen Mediziner, einem Grundsatzentschluss des Meiji-Kaisers zu danken, nämlich: dass in dem von oben nach unten radikal reformierten Staatswesen eine Strafrechtsordnung nach deutschem Vorbild einzuführen sei. Dies war on direktem Einfluss auf die Gerichtsmedizin, und folgerichtig waren auch Katayamas Nachfolger im Direktorenamt, Sadanori Mita und Kamemoto Furuhata, in den zwanziger Jahren Absolventen der Berliner, der heutigen Humboldt-Universität.

Professor Ishiyama ist um Geschichten über seine Vorgänger nicht verlegen. Kaayama zum Beispiel soll in seinen Erinnerungen geklagt haben über die Sturhit seiner deutschen Kollegen beim Arbeiten, die jedoch durch anregende Unterhaltung vor allem dann ausgeglichen worden sein, wenn man ihn zum Essen eingeladen habe. Wirklich entbehren müssen aber habe er das erhoffte Gespräch mit dem berühmten Rudolf Virchow. Der sei 1883 neben seiner eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit viel zu sehr beschäftigt gewesen mit eigenen Entwürfen für den Bau des Hauses in der Hannoverschen Straße 6 in Berlin. Und genau das ist das heutige Gebäude der Gerichtsmedizin.

Wie komplex Japaner dachten und denken, wenn es um die Übernahme nützlicher Erfahrungen geht, davon legt übrigens dieses Haus in der Hannoverschen Straße rührendes Zeugnis ab. Denn, so wieder Professor Ishiyama: Student Moriharu Miura, Schüler Virchows in der Pathologie, brachte wahrscheinlich 1883 dessen Baupläne mit nach Toko, und so entstand in der Kaiserlichen Universität ein fast deckungsgleiches Abbild des Berliner Originalgebäudes. Auf alten Fotos ist die Tokioter Kopie noch zu sehen – sie fiel dann aber dem großen Erdbeben von 1923 zum Opfer.

Für Ikuo Ishiyama indes ist diese Hannoversche Straße 6 „meine Heimat“. Zu Ostern 1965 war es, als es den damals Vierunddreißigjährigen bei einem Aufenthalt in Kiel nach Berlin trieb mit dem Vorhaben, das Naturkundemuseum der Humboldt-Universität kennenzulernen. „Auf eigene Gefahr“, lächelt Ishiyama, gab ihm der japanische Konsul in Westberlin damals die „Bewilligung“ zu einem „so noch ganz und gar nicht alltäglichen Unternehmen“. Und dann war das Museum geschlossen, und: „Ich wagte es tatsächlich, einen heimlichen Plan zu verwirklichen und unangemeldet bei Professor Otto Prokop, dem uns japanischen Studenten längst bekannten Berliner Professor, der damals direkt in der Gerichtsmedizin wohnte, anzuläuten.“

Und nun gibt es eine zwanzigjährige Beziehung der Freundschaft und engen Zusammenarbeit, die den Vergleich mit den historischen Vorbildern nicht zu scheuen braucht. Mit seinem „Abstecher“ im Jahre 1965 fand Ishiyama fruchtbare Kooperation dort, wo die humanistischen Ideale Virchows und Kochs ihre Heimstatt haben. Sein Grundverständnis der modernen Rechtsmedizin sei an der Humboldt-Universität geprägt worden, meint Professor Ishiyama. Beeindruckt vor allem habe ihn die konsequente Zusammenführung von Spezialisten vieler von der Gerichtsmedizin früherer Zeiten kaum beachteter medizinischer Einzeldisziplinen mit dem Ziel, einen immer gründlicheren, immer weniger anfechtbaren Beitrag zu leisten zur Rechtsfindung und Straftatenbeureilung.

In dieser Entwicklung der Gemeinschaftsarbeit, gekoppelt mit international hochgeschätzter eigener Forschung, sehe er Professor Prokops gewaltige Leistung, die ihn beständig zu eigenen größeren Anstrengungen herausfordere. „Ich bin sein Schüler“, sagt Professor Ishiyama, „und mit seinem Vollkommenheitsanspruch trifft sich mein Credo: als vor allem auf die Pathologie spezialisierter Gerichtsmediziner durch immer genauere Kenntnis von Todesursachen einen Beitrag zum Leben zu leisten.“

Die Ergebnisse, die Ikuo Ishiyama beim Ringen um die Verwirklichung dieses Credos der Fachwelt vorgelegt hat, haben längst weltweite Anerkennung gefunden. Für seine Leistungen bei der Erfindung einer Methode zur Blutgruppenbestimmung aus Fingerabdrücken, der Isolierung einzelner Blutbestandteile, der Entwicklung von Schnellnachweisen für Sucht- und Dopingmittel und vieles andere mehr, dargelegt in 10 Monographien und 500 Fachartikeln, wurde er weltweit geehrt. Er ist unter anderem Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und Ehrendoktor der Humboldt-Universität, und im Herbst 1984 ernannte ihn die Akademie der Wissenschaften der DDR zu ihrem Auswärtigen Mitglied.

Dennoch sendet der „Schüler“ seine deutschsprachigen Manuskripte noch immer vor der Veröffentlichung zur Begutachtung an seinen Lehrer, Professor Prokop. „Denn sein Wort gilt, und es ist mir wichtig wie eh und je“, sagt der japanische Professor. Und längst hat er selbst Schüler, die er im Geist dieser beiderseitig fruchtbaren Zusammenarbeit erzieht, und längst arbeitet er bewusst daran, den Weg der Kooperation, den er 1965 mit seinem „Abstecher“ wieder eröffnete, auf traditionsträchtigem Grund weiter zu verbreitern.