in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 43/87 vom 27. Oktober 1987, S. 1358-1360Manzhouli heißt die chinesische Grenzstation an der Bahnlinie Moskau-Peking. Genauer: an der längeren der beiden möglichen Strecken, die – die Mongolische Volksrepublik östlich umgehend – auf dem Weg zur Endstation noch das ausgedehnte nordostchinesische Industriegebiet mit den Provinzmetropolen und Millionenstädten Harbin, Changchun und Shenyang durchquert.

Adolphi 1987: Zehntausend Kilometer in einem Zuge

Zehntausend Kilometer in einem Zuge

von Wolfram Adolphi

in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 43/87 vom 27. Oktober 1987, S. 1358-1360

Manzhouli heißt die chinesische Grenzstation an der Bahnlinie Moskau-Peking. Genauer: an der längeren der beiden möglichen Strecken, die – die Mongolische Volksrepublik östlich umgehend – auf dem Weg zur Endstation noch das ausgedehnte nordostchinesische Industriegebiet mit den Provinzmetropolen und Millionenstädten Harbin, Changchun und Shenyang durchquert. Sabaikalsk heißt der Grenzbahnhof auf der sowjetischen Seite, „hinter dem Baikal“ also, aber in was für einer Entfernung!

Sljudjanka, kleine hübsche Bahnstation an der südlichen Schmalseite des Baikalsees, die zu durchmessen allein vier Fahrstunden vor immer großartiger werdendem See- und Gebirgspanorama in Anspruch nimmt, trägt die Kilometernummer 5312; die 1 steht auf dem Jaroslawsker Bahnhof in Moskau. Karymskaja, wo sich die China-Strecke von der Transsib trennt, liegt tausend Kilometer östlich vom Baikal. Und in Sabaikalsk sind seit Moskau fast siebentausend Kilometer zurückgelegt. In China die gleichen Dimensionen: vierzehn Stunden von Manzhouli bis Harbin, und dann noch einmal achtzehn von Harbin bis Peking.

Geduld ist gefragt bei solcher Reise. Wie aber geduldig sein, wenn man darauf brennt, nach neun Jahren alte Bekannte wiederzutreffen, und wenn man weiß, wieviel sich seit jenem für die Volksrepublik China so bedeutsamen Dezember 1978, in dem die grundlegenden Beschlüsse für die sozialistische Modernisierung des Landes gefasst worden waren, verändert hat.

Die viele Tage und Nächte dauernden Zugfahrten durch die Sowjetunion sind berühmt für interessante Reisebekanntschaften. Man findet sich schnell zusammen beim Tee, den der Schlafwagenschaffner den ganzen Tag über heiß aus dem Samowar anbietet. Und es bleibt nicht bei belanglosen Gesprächen, schon gar nicht, wenn man im engen Viermannabteil mit einem Sibirier zusammenkommt, der leidenschaftlich von seiner Teilnahme an den Schlachten von Kursk und Berlin erzählt, sich der Namen jener Berliner Straßen erinnert, in denen er die Enttrümmerung miterlebt hat, ehe er fragt, wie wir, die Jüngeren, heute die Welt sehen. Und wenn der dritte und vierte Bewohner der Kabine chinesische Wissenschaftler sind, Physiker der eine, Ökonom der andere, die beide von Fachkonferenzen von Nowosibirsk in die Heimat zurückkehren, angefüllt mit mitteilenswerten Eindrücken von ihrer Begegnung mit sowjetischen Fachkollegen, dann geht die Rede sehr bald über den Sozialismus hier und dort, und natürlich bleibt auf der „Rest der Welt“ nicht ausgespart.

Aus dem Nachbarabteil klingt s ganz ähnlich. Dort wohnen seit Moskau drei von mehr als einem Dutzend sowjetischer Professoren und Dozenten, die in diesem Zug zu einer einjährigen Lehrtätigkeit in die VR China reisen. Ihnen zugesellt hat der Zufall der Bettenausgabe einen chinesischen Wirtschaftsexperten, der von zweijährigem Managertraining in New York zurückkehrt und mit Bedacht die lange Zugfahrt dem schnellen Flug vorgezogen hat. „Man muss doch die Entfernungen einmal erfühlen, das große Nachbarland, dessen Umgestaltungsprozess in den chinesischen Zeitungen zunehmende Aufmerksamkeit findet, wenigstens aus dem Zugfenster ein bisschen aus der Nähe betrachten“, sagt er und hat – wie so viele andere – sichtbaren Spaß an den internationalen Debatten im rollenden Zug.

Viele der nun zahlreicher am Abteilfenster vorbeihuschenden [chinesischen] Dörfer und kleinen Städte, die mir von 1978 hautsächlich durch ihre ärmlichen grauen Lehmhütten in Erinnerung geblieben waren, bieten jetzt einen ausgesprochen farbigen und lebendigen Anblick. Gelbe und rote Ziegelhäuser, von kleinen, meist sonnenblumenbestandenen Gärten umgeben, sind vielerorts schon der dominierende Wohnungstyp. An den Bahnübergängen haben sich lange Staus gebildet: zwischen den noch immer unentbehrlichen, geradezu universell einsetzbaren Eselskarren neue Lastkraftwagen aus chinesischer Eigenproduktion, vertraute W 50 aus Ludwigsfelde, Tatra-Laster aus der ČSSR, Nissan-Kleinbusse aus Japan, im staubigen Gedränge Personenwagen von VW, Peugeot und Toyota, Ladas aus Togliatti …

Überall dort, wo der Boden es zulässt, intensiv und sorgfältig gepflegte Gemüsefelder. Die Landwirtschaftsreform, die seit 1978 Platz gegriffen hat und der Eigeninitiative der Bauern lohnenden ökonomischen Anreiz bietet, trägt – die hauptstädtischen Märkte werden dies später bestätigen – reiche Früchte.

Nachdem der Zug stundenlang schnurgerade durch eine schier endlose, schilfbewachsene, morastige Ebene gerollt ist, die Industrie: Daqing, berühmtestes Ölfeld des Landes, auszumachen zuerst an unzähligen kleinen Erdölpumpen, die mit ihren merkwürdigen, an langen Stahlgitterarmen befestigten Schwungmassen die Landschaft windmühlenartig in Bewegung zu versetzen scheinen. Die Stadt selbst mit großzügig angelegten Neubausiedlungen, Kräne und Bagger überall, aus dem Abteilfenster zu beobachten der Bau einer Hochstraße.

Dann Harbin. Auch hier ist das Gelände um den Bahnhof ein einziger Bauplatz. Stahl- und Betonskelette künftiger Geschäftshochhäuser ragen in den Himmel, dominieren schon jetzt die alten Kolonialbauten, die – in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts von jenen errichtet, die gerade dieses Nordostchina gar zu gern zu einer britischen, französischen, zaristisch-russischen oder deutschen Einflusssphäre gemacht hätten – bei meinem letzten Besuch noch als einzige das Meer der Hütten überragten. Nun allenthalben neue Wohnviertel mit freundlichen, pastellfarbenen Häusern.

Die nächste Großstadt erreicht der Zug im Dunkeln, Changchun. Die Zeitungen berichten, dass hier eines der Zentren der künftigen chinesischen Pkw-Produktion entstehen wird. Changchun sollte von 1932 bis 1945 unter dem Namen Xinjing dem japanischen Marionettenstaat Manzhouguo als „Neue Hauptstadt“ dienen und Herrschaftsansprüche des damaligen japanischen Militarismus auf dem Boden Chinas verewigen. Zu den wenigen – man kann sie an den Fingern einer Hand abzählen –, die dieses künstliche „Staats“gebilde anerkannt hatten, weil sie auf einen fetten Anteil an der Ausbeutung dieses reichen und fruchtbaren Gebietes Chinas hofften, gehörte das faschistische Deutschland.

1945 fanden hier, in Nordostchina, entscheidende Kämpfe zur Befreiung Chinas statt. Unter den gleichzeitigen Schlägen der sowjetischen Fernostarmee unter Marschall Wassilewski, an denen auch mongolische Verbände unter Marschall Tschoibalsan einen wichtigen Anteil hatten, und der chinesischen 8. Feldarmee unter dem legendären Heerführer Marschall Zhu De zerbrach im August jenes Jahres die japanische Guandong-(Kwantung-)Armee, zerbrach der Marionettenstaat Manzhouguo, und in der Folge wurde Nordostchina zu einem Zentrum des sozialistischen Aufbaus.

Die historische Dimension des zurückgelegten Weges kommt einem zwangsläufig in den Sinn, wenn man über mehr als zehntausend Kilometer in einem Zuge – von Berlin über Warschau und Moskau nach Peking – durch sozialistisches Freundesland gereist und überall willkommen ist.