in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 40/1988 vom 4. Oktober 1988, S. 1260-1261Zum ersten Mal hatte die Europäische Vereinigung für Chinastudien (EACS) zu einer Konferenz in ein sozialistisches Land eingeladen, und fast überall, wo in Europa zu Chinas Geschichte und Gegenwart, zu seiner Literatur und Sprache geforscht wird, war der Ruf nach Weimar auf freundliche Zustimmung gestoßen.

Adolphi 1988: Chinaforschung ohne Distanz

Chinaforschung ohne Distanz

von Wolfram Adolphi

in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 40/1988 vom 4. Oktober 1988, S. 1260-1261

Zum ersten Mal hatte die Europäische Vereinigung für Chinastudien (EACS) zu einer Konferenz in ein sozialistisches Land eingeladen, und fast überall, wo in Europa zu Chinas Geschichte und Gegenwart, zu seiner Literatur und Sprache geforscht wird, war der Ruf nach Weimar auf freundliche Zustimmung gestoßen. Wissenschaftler aus fünfzehn Ländern und aus Westberlin versammelten sich Anfang September zur XXXI. Tagung der EACS in der Klassikerstadt, dazu als Gäste Fachkollegen aus Japan und Vietnam, Australien und den USA, und natürlich Wissenschaftler aus der VR China, auch aus Hongkong und Taiwan.

 

Da stand die Geschichte Chinas von den frühen Perioden bis zur Neuzeit zur Debatte, wurden aktuelle Probleme der Reformen in der Volksrepublik diskutiert, beschäftigte man sich mit den Beziehungen zwischen China und Europa, erörterte Fragen der Literaturentwicklung in China und tauschte Erfahrungen beim Übersetzen chinesischer Literatur in europäische Sprachen aus. In der Diskussion kam von allen Seiten zum Ausdruck, dass die Beziehungen zwischen China und Europa in vergangenen Jahrhunderten und in der Neuzeit noch längst nicht tief genug ausgelotet sind, dass noch viel zu tun bleibt im Begreifen der vielfachen Interdependenz zwischen den beiden großen Kulturkreisen, um fruchtbare Beziehungen im Sinne gemeinsamen Fortschritts gestalten zu können.

„Wie sind froh“, sagte Professor Zhang Baijia, ein Historiker aus Peking, „dass China hier nicht ein fernes und mit Distanz beobachtetes ‚reines Forschungsobjekt‘ war, sondern als lebendiger Partner in stetem Bezug zu den europäischen Entwicklungsproblemen betrachtet wurde.“

Ungewöhnlich der Konferenzbeitrag von Professor Marianne Bastid-Bruguière. Sie hatte, als die Tagungsteilnehmer Buchenwald besuchten, den Glockenturm auf dem Ettersberg als Ort für eine bewegende Rede gewählt, mit der sie ihres Landsmannes Henri Maspéro gedachte – eines der großen europäischen Sinologen unseres Jahrhunderts, der 1945, wenige Wochen vor der Befreiung, in diesem KZ umgebracht worden war.

Weimar als Gastgeber. Es ist schon beglückend zu erleben, wie die Atmosphäre der Stadt das Klima einer solchen internationalen Konferenz zu beeinflussen vermag. Viele Teilnehmer bestätigten, was der Literaturwissenschaftler Professor Nils Göran Malmqvist aus Stockholm, alter und neuer Präsident der EACS, zum Abschied gegenüber dem Bürgermeister zum Ausdruck brachte: Man habe beim Besuch der Klassikergedenkstätten eine nicht alltägliche geistige Erfrischung und Anregung empfunden, fühle man sich doch in der eigenen Arbeit eng verbunden mit den humanistischen Weimarer Traditionen kulturellen Weltempfindens.

Was hatten die Chinawissenschaftler der DDR in diese Konferenz einzubringen? Für einen besonders Verdienten unter ihnen war die Konferenz Höhepunkt und Abschluss jahrzehntelangen beruflichen Wirkens für diese Wissenschaft in unserem Land und in europäischem Maßstab zugleich: Professor Fritz Gruner, Berlin, bekannt als Übersetzer moderner chinesischer Literatur und Förderer ihrer Verbreitung, gleichzeitig Lehrer nun schon mehrerer Generationen von Regional, Literatur- und Sprachwissenschaftlern sowie Dolmetschern. Im Eröffnungsplenum, das von ihm geleitet wurde, war auch der erste von insgesamt 14 DDR-Beiträgen zu hören: Zum Friedens- und Humanitätsgedanken in der klassischen chinesischen Philosophie sprach der Leipziger Philosoph, Chinawissenschaftler und Konfuzius-Übersetzer Professor Ralf Moritz. Wissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität präsentierten neue Forschungsergebnisse zur alten chinesischen Geschichte ebenso wie zu Fragen der Übersetzungstheorie, zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen wie zur Literatur der VR China in den achtziger Jahren.

Aus der Akademie für Gesellschaftswissenschaften kamen Beiträge zur revolutionären Bewegung im China der zwanziger Jahre wie zu ganz aktuellen Problemen der Sozialismusentwicklung in der Volksrepublik. Die Leipziger Universität war außerdem mit einem Beitrag zum traditionellen chinesischen Denken vertreten. Von der Akademie der Wissenschaften kam ein Beitrag zu Fragen der Wortbildung in der chinesischen Sprache, und die Deutsche Staatsbibliothek stellte im Abschlussplenum ihre „Libri Sinici“ vor, den Bestand an Literatur in chinesischer Sprache; das älteste dieser Bücher stammt übrigens aus dem Jahre 1665.

Ja, die XXXI. EACS-Konferenz war auch eine Demonstration des Leistungsvermögens der Chinawissenschaft der DDR. Aber vor allem war sie ein auch auf diesem Gebiet notwendiger, die Verständigung fördernder internationaler Dialog. Auf Weimer 1988 soll in zwei Jahren das Treffen im niederländischen Leiden folgen.