in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 29/1988 vom 19. Juli 1988, S. 906-908Mit den Kommilitonen der Peking-Universität kommt man rasch ins Gespräch. Auf der immer belebten Hauptallee des riesigen Universitätscampus zum Beispiel – wenn sie nicht gerade tollkühn durch die Fußgängermenge zur Vorlesung radeln oder in Paaren zum Wohnheim flanieren. Auch im Buchladen des Campus, wo nie kein Gedränge herrscht.

Adolphi 1988: Pekinger Studien

Pekinger Studien

von Wolfram Adolphi

in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 29/1988 vom 19. Juli 1988, S. 906-908

Sechs Monate Forschungsstudium in Peking: Studien zu Chinas Geschichte in diesem Jahrhundert – und natürlich zur Gegenwart.

Mit den Kommilitonen der Peking-Universität kommt man rasch ins Gespräch. Auf der immer belebten Hauptallee des riesigen Universitätscampus zum Beispiel – wenn sie nicht gerade tollkühn durch die Fußgängermenge zur Vorlesung radeln oder in Paaren zum Wohnheim flanieren. Auch im Buchladen des Campus, wo nie kein Gedränge herrscht. Der Lesehunger ist gewaltig, das Buchangebot reicht aber noch nicht aus. Mancher versinkt direkt am Verkaufsregal im Buch und kritzelt Exzerpte; jede Geldausgabe will gut überlegt sein. Und der Platz ist knapp bemessen in der Unterkunft, auch für Bücher. Trotzdem haben die sechs bis acht Bewohner eines Internatszimmers immer Platz und Zeit für den Gast und bewirten ihn mit duftendem grünen Tee.

Vor zehn Jahren, bei meinem ersten Aufenthalt in China, war die Atmosphäre völlig anders. Umso stärker erlebe ich jetzt die Ungezwungenheit der Begegnungen.

Die Volksrepublik China – so hatte Zhao Ziyang auf dem Parteitag im Oktober vergangenen Jahres betont – befindet sich in der Anfangsphase des Sozialismus. Modernisierung und Öffnung – das sind die beiden Zentralbegriffe dafür, was sich in dieser auf Jahrzehnte veranschlagten Anfangsphase seit dem tiefgreifenden Umbruch des Jahres 1978 vollzieht. Modernisierung als Antwort auf die selbstzerstörerische Stagnation. Öffnung als Antwort auf die Selbstisolierung in der Periode der „Kulturrevolution“. Man trifft kaum einen, den diese Begriffe nicht beschäftigen, der ihnen nicht auf seine Weise Inhalt zu geben versucht.

Freilich: Modernisierung und Öffnung, diese Begriffe, die manchem fast wie Zauberworte vorkommen, sie bezeichnen weniger schon Erreichtes als vielmehr den Weg der Veränderung. Und dieser Weg ist trotz der Fortschritte der vergangenen zehn Jahre und der damit verbundenen neuen Erfahrungen Vorstoß in Unbekanntes.

Nun also kann man – auch dies ein wichtiger Teil der Öffnung – als Gaststudent miterleben, wie sich der Nachwuchs der chinesischen Intelligenz der Modernisierung stellt. Hunderte aus aller Welt haben wie ich diese Möglichkeit an der Peking-Universität, Tausende im ganzen Land. Gleichzeitig halten sich Zehntausende chinesische Studenten im Ausland zur Ausbildung auf – in den USA vor allem, in Japan und Westeuropa; vorerst noch wenige in der Sowjetunion, bei uns und in anderen sozialistischen Ländern.

Was wird jemand einbringen in den Prozess der Modernisierung Chinas nach mehrjährigem Managerstudium in den USA? Was, wenn man sich den plan- und betriebswirtschaftlichen Erfahrungen der Sowjetunion zuwendet und all dem, was sich dort an Umgestaltung vollzieht? In welcher Beziehung ist Japans Wirtschaft ein Vorbild? Fragen, mit denen sich die Pekinger Studenten heftig auseinandersetzen, denn von der Antwort hängt ihre Zukunft ab. Am meisten aber erhitzen sich die Gemüter im Streit darüber, ob dies eine undifferenzierte Öffnung für alles bedeutet, was auf China einströmt. Woran misst man, was dem „Sozialismus chinesischer Prägung“ dient?

All diese Diskussionen vollziehen sich unter noch immer sehr komplizierten Arbeits- und Lebensbedingungen nicht nur der Studenten, sondern auch der großen Mehrheit der Wissenschaftler. Der rasche, noch junge wirtschaftliche Aufschwung hat viele Disproportionen erzeugt, die Sorge bereiten und Abhilfe verlangen. So kommen zur erwähnten Raumnot an den Universitäten niedrige Gehälter und Stipendien. Mancher strebt nach dem Examen nicht unbedingt einen seiner Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz an, weil er anderswo – vielleicht als kleiner Händler auf den blühenden „freien Märkten“ – schneller zu Geld kommen kann. Andererseits finden Hochschulkader nicht immer einen ihren Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz. „Wir müssen“, so heißt es dazu im Bericht der Regierung an den Volkskongress, „weiter daran arbeiten, eine gesellschaftliche Moral zu schaffen, die Wissen und Fachkräfte respektiert“ – was natürlich, wie in den Dokumenten ebenfalls betont wird, untrennbar verbunden sein muss mit größeren Investitionen zugunsten der Wissenschaft, zugunsten des Einsatzes der qualifizierten Kader. An Mitteln dafür aber fehlt es noch – und erbracht werden können sie nur auf der Grundlage weiterer Leistungssteigerungen in der Wirtschaft.

Diese Wechselwirkung den Studenten nahezubringen, das gehört unter den Bedingungen der noch immer nachwirkenden „Kulturrevolution“ zu den Hauptaufgaben, die sich – wie aus jüngsten Zeitungsmeldungen erneut ablesbar war – die Erziehungskommission der VR China gestellt hat. Es gehe um eine klarere gesellschaftspolitische Orientierung der Studenten, um die Festigung des Vertrauens der Jugend in den Sozialismus, in das Modernisierungs- und Öffnungsprogramm der Kommunistischen Partei.

Dabei entstehen verschiedene neue Forderungen an die Studenten im Studiengang selbst. So orientiert der Volkskongress auf eine umfassende Verbesserung der Ausbildungsqualität und im Zusammenhang damit auch auf die Einführung von „Konkurrenzmechanismen in angemessenem Rahmen“. Dabei sollen die Hochschulen nicht vergrößert, soll ihre Zahl nicht erhöht werden. Das heißt für die gegenwärtig rund 1,75 Millionen Studenten und Forschungsstudenten an 1016 Hoch- und Fachschulen des Landes, den Lernprozess zu intensivieren und sich auf künftige Bedürfnisse der Entwicklung Chinas einzustellen.

Sechs Monate Mit-Student in Peking, das war auch eine Gelegenheit, unter Freunden ein paar Jahrzehnte vorauszuträumen.