in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 5/1990 vom 30. Januar 1990, S.132-133Das ist ein Text mitten aus dem fiebrigen, schlaflosen, so erwartungs- wie sorgenreichen Januar 1990. Beim Schreiben war ich noch Angehöriger der Sektion Asienwissenschaften der Humboldt-Universität. Zwei Wochen später wurde ich völlig überraschend als Seiteneinsteiger zum Vorsitzenden der Berliner PDS gewählt.

Adolphi 1990: Sind wir nun weltoffen?

Sind wir nun weltoffen?

von Wolfram Adolphi

in: Die Weltbühne, Berlin (DDR), Nr. 5/1990 vom 30. Januar 1990, S.132-133

Im Frühjahr 1981 – ich hatte die ersten paar Monate als Korrespondent in Japan hinter mir – sagte ein japanischer Berufskollege bei abendlicher Nudelsuppe und Bier in einer der herrlich engen, lauten und verräucherten Kneipen Tokios mehr beiläufig zu mir: „Gut, dass Sie überhaupt nicht rassistisch sind.“ Der Satz kam mir merkwürdig vor; war Nicht-Rassismus denn nicht selbstverständlich? Heute klingen mir die Ohren.

Wie gehen wir denn um in unserem Land mit Nachbarn aus Polen, mit den Kollegen aus Vietnam, China, Kuba oder Moçambique? Natürlich ist – gedankenlose? – Abfälligkeit noch kein Rassismus, aber: Nicht-Rassismus ist das auch nicht!

Und träumen sich nach dieser deutsch-deutschen Silvester-Sektseligkeit nicht viele bereits n spanische oder marokkanische Mittelmeerstrände, umschwärmt von Niedriglohn-Dienstfertigkeit? Bedenken all jene, denen die Erfahrung beglückend erscheint, wie über Jahrzehnte hinweg deutsch-deutsche Zusammengehörigkeitsgefühle stabil blieben, dass auch der verderbliche deutsche Überlegenheitswahn solche Stabilität besitzen könnte? Ist es nicht verständlich, dass unsere Nachbarn eben diesen Taumel und alles Deutschtümeln mit größter Sorge betrachten?

„Denken im Kontext“ war jüngst ein Beitrag in der Weltbühne überschrieben, der sich mit der deutschen Problematik befasste. Genau darum geht es: dass wir unsere Zukunft nicht werden gestalten können, wenn wir nicht stets die Um-Welt, die Mit-Welt dazudenken. Die unheilvolle deutsche Geschichte ist für mich ein zwingender Grund, für Welt-Anschauung – also für mehr als nur Europa-Sicht – zu plädieren. Ein Beispiel nur will ich nennen aus einem Kapitel Weltkriegsgeschichte, das sich, nicht nur in Europa, sehr weitgehend und hartnäckig als weißer Fleck behauptet: die Aggression Japans gegen China, vom Zaune gebrochen am 7. Juli 1937.

Viel wäre da zu sagen zur deutschen Schuld an dieser Aggression – einer Schuld, die sich besonders eindrucksvoll dokumentiert in den Reaktionen gerade der Herrschenden im überfallenen China, die sich eigentlich einig wähnten in ihrem Antikommunismus mit dem deutschen Faschismus und dem japanischen Militarismus. Aber hervorheben will ich eigentlich etwas anderes: die Tatsache nämlich, dass es – ich habe dazu in der DDR ausführliche Aktenstudien betrieben – ausgerechnet deutsche Diplomaten waren, die 1937 in ihren Berichten aus China deutlich machten, dass die „kommunistische Gefahr“ den japanischen Aggressoren nur als Vorwand dafür diente, ihren auf Expansion und Eroberung zielenden Krieg zu rechtfertigen.

Ich plädiere für Welt-Sicht in der Geschichte als Hilfe für die Welt-Anschauung in der Gegenwart. Ich sehe Welt-Anschauung als unabdingbaren Bestandteil allen verantwortungsvollen Umbruchs- und Erneuerungsdenkens überhaupt. Das Experiment Sozialismus, so hört man viele sagen, sei nun gescheitert, und zu neuen Experimenten habe man keine Lust. Es sei mir als Asienwissenschaftler erlaubt zu fragen: Ist das japanische Experiment – ein auf dem Trritorium Japans zweifellos erfolgreicher Kapitalismus – für die 1,1 Milliarden Chinesen ein nachvollziehbares Vorbild? Hat man schon darüber nachgedacht, wie die Erde aussähe, wenn China, beispielsweise, so voll mit Autos wie Japan ist?

Es lebe ein reiches, kapitalistisches Europa? In dem wir dann ganz sorglos sind? (Und unsere Kinder und Enkel trifft der Zusammenbruch einer Welt, weil wir die Mehrheit der Milliarden Menschen dieser Erde ausgeschlossen haben aus einem Wohlstand, der so, wie er verstanden wird in den hochentwickelten Industriestaaten, nichts anderes sein kann als ein sehr partielles Glück – partiell in Raum und Zeit.)

Genug, höre ich wiederum sagen, wir haben ja mit unserem Sozialismus die Stärke nicht aufgebracht, anderen wirklich helfen zu können. Was also soll nun wieder die bloße Idee. – Die bloße Idee? Vielleicht braucht uns Europa, braucht uns die Welt gerade dieser Ideen wegen? Damit wir sie einbringen mit aller Kraft in die Überwindung einer Krise, die nichts Geringeres ist als Ausdruck einer Krise der Welt, der Menschheit überhaupt – und deren Überwindung also wirklich den Beitrag aller braucht.

Ich versuche es mit Gorbatschow zu halten, der die Idee von den Notwendigkeit des Sich-Veränderns aller Gesellschaftsordnungen mit aller Konsequenz in die Welt gebracht und zum Kernpunkt des neuen Denkens entwickelt hat. In diesem Denken – und Handeln – ist Welt-Anschauung Pflicht. Nur durch die Wahrnehmung des anderen können wir uns selbst finden.