In: Neues Deutschland vom 09.07.2009Von Beijing nach Ürümqi, der Hauptstadt des nordwestchinesischen Autonomen Gebietes Xinjiang-Uigur, ist es etwa so weit wie von Berlin nach Bagdad, der Hauptstadt des Irak: knapp 3.800 Kilometer. Und hier wie da geht es um einen Konflikt mit dem Islam. Der Unterschied: Berlin und Bagdad liegen in unterschiedlichen Staaten, Beijing und Ürümqi hingegen nicht.

Adolphi 2009: Ein explosives Bündel von Problemen. Der Konflikt mit den Uiguren ist auch vom »Krieg gegen den Terror« geprägt

In: Neues Deutschland vom 09.07.2009

Von Beijing nach Ürümqi, der Hauptstadt des nordwestchinesischen Autonomen Gebietes Xinjiang-Uigur, ist es etwa so weit wie von Berlin nach Bagdad, der Hauptstadt des Irak: knapp 3.800 Kilometer. Und hier wie da geht es um einen Konflikt mit dem Islam. Der Unterschied: Berlin und Bagdad liegen in unterschiedlichen Staaten, Beijing und Ürümqi hingegen nicht. Im Irak haben die USA mit Unterstützung einer »Koalition der Willigen« einen Krieg mit Zehntausenden Todesopfern geführt, um, wie sie sagten, den »islamistischen Terror« zu besiegen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, damals noch in der Opposition, hätte sich gern beteiligt. In Afghanistan glaubt sie nun, das im Irak Versäumte nachholen zu müssen und stockt die deutschen Truppen »für die Verteidigung unserer Freiheit am Hindukusch« weiter auf. In diesem Krieg kämpfende – und manchmal sterbende – deutsche Soldaten werden neuerdings als Helden geehrt. Für die Toten auf der anderen Seite hat die deutsche Regierung, wenn sie sie als Taliban-Kämpfer auszumachen geglaubt hat, nur Verachtung, und wenn es sich um Zivilisten, Frauen, Kinder handelt, achselzuckendes Bedauern. Ist halt ein internationaler Krieg. Und in Xinjiang? Wie ist es da? Wer sind da die Helden, wer die Verachtungswürdigen?

Xinjiang und der »Krieg gegen den Terror« hängen enger zusammen, als uns der Meinungshauptstrom glauben zu machen versucht. Die Tragödie der blutigen Zusammenstöße von Ürümqi ist ein Menetekel der Ungewinnbarkeit dieses unseligen Krieges, ein Mahnzeichen seiner unübersehbaren, den Weltfrieden aufs Spiel setzenden Weiterungen.

Dies sei zu weit gegriffen? Ganz und gar nicht. In Xinjiang, einer zentralasiatischen Region, in der um die acht Millionen Uiguren muslimischen Glaubens leben und die an die vom Krieg zerrütteten Nachbarstaaten Pakistan und Afghanistan, zugleich auch an die ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan und Tadshikistan grenzt, sind die Probleme zu einem explosiven Bündel geschnürt.

Da ist erstens das Nationalitätenproblem in China selbst. Es ist ein uraltes Problem. Die Uiguren zählen wie die Kasachen, Kirgisen, Usbeken und andere zu den Turkvölkern. Diese betrachten das Gebiet zwischen Kaspischem Meer und der Mongolei – im Norden begrenzt durch eine Linie in Höhe des Balchasch-Sees, im Süden bis in die nördlichen Grenzregionen des Iran und Afghanistans reichend – als ein sie alle verbindendes Turkestan. Schon immer war dieses Turkestan Objekt der Begierde anderer. Im siebenten und achten Jahrhundert arabischer – und somit den frühen Islamismus verbreitender – Herrschaft unterworfen, wurde es später zum Zankapfel von Persern, Chinesen und Russen. Mitte des 19. Jahrhunderts gliederte die chinesische Zentralgewalt Ost-Turkestan unter dem Namen Xinjiang – »neues Land« – ins chinesische Kaiserreich ein, um prompt mit gewaltigen »Mohammedaneraufständen« konfrontiert zu sein, die sich nach der Revolution von 1911 auch gegen Tschiang Kaischek fortsetzten. Als sich die chinesische Rote Armee 1934/35 im Bürgerkrieg mit ihrem »Langen Marsch« der Zerschlagung durch die Tschiang-Kaischek-Truppen entzog, berührte sie auch Xinjiang, geriet in blutige Schlachten mit dortigen uigurischen Stammesfürsten, und auch in der Zeit der Volksrepublik hörten die Spannungen nie auf, setzten sich die gewalttätigen Auseinandersetzungen fort. Die 1978 in Gang gesetzten Reformen, die bis heute den großen Städten in Chinas Osten, in den vor allem die han – die „eigentlichen“ Chinesen – leben, so viel wirtschaftlichen Aufschwung, so viel Gewinn an Lebensstandard brachten, verschärften die sozialen und ethnischen Spannungen weiter. Hier liegt eine Ähnlichkeit mit den Unruhen in Tibet im vergangenen Jahr: Die Reisefreiheit und die Freiheit zum kapitalistischen Unternehmertum sind Quellen neuer Widersprüche, Quellen auch einer Belebung des Nationalismus der han.

Da ist zweitens das Problem des uigurischen Separatismus. – Aber halt: Muss das ein Problem sein? Wäre es nicht leicht zu lösen, indem man sich auf das Einfachste besinnt: das Selbstbestimmungsrecht der Völker, also auch: das Recht auf Lostrennung? Das ist aus mindestens drei Gründen nicht so einfach, wie es scheint: a) wegen der vielfältigen ethnischen Vermischung, die in Xinjiang längst stattgefunden hat; b) wegen der Erfahrungen, die es damit gibt, dass losgetrennte Staaten von interessierter Seite rasch in Bündnissysteme gegen den dann ehemaligen »Mutter«-Staat eingegliedert werden; und c) weil sich der uigurische Separatismus mit der Vorstellung eines Groß-Turkestan verbindet, das zu neuen gewaltigen Kräfteverschiebungen führen würde. Das muss konsequent zu Ende gedacht werden: die Wiederentstehung Turkestans – warum nicht auch Kurdistans, Belutschistans?

Ja, und? Warum eigentlich nicht?

Weil drittens die erbitterten Kämpfe um die Beherrschung der Welt, um den Zugriff auf die natürlichen Ressourcen unserer Erde, unter denen der »Krieg gegen den Terror« ein besonders verhängnisvoller ist, einer friedlichen, auf Dauer gestellten Lösung dieser komplizierten Fragen diametral entgegenstehen. Es ist eine tödliche Logik: Weil die USA sich für diesen Krieg der chinesischen Unterstützung versichern wollten, ermutigten sie die chinesische Führung, ihre ohnehin schwierige Auseinandersetzung mit den Uiguren nun ebenfalls unter das Banner des »Krieges gegen den Terror« zu stellen.

Wer hier – wie es lt. »Spiegel« der Afghanistankriegs-Befürworter Günter Nooke tut – schnell mit einseitigen Vorwürfen an die chinesische Regierung zur Hand ist, hat die Dimension des Konfliktes nicht verstanden. Ein radikales Umsteuern weg vom Krieg, hin zu einer konsequent friedlichen Konfliktbewältigung – wie sie übrigens die UN-Charta seit 1945 fordert! – ist nötig. Sonst wird Zentralasien zum Pulverfass.