Im Frühjahrssemester 2021 befasst sich an der Hochschule München ein Seminar von Prof. Dr. Klaus Weber zur Faschismusforschung mit dem ersten Band meines Romans "Hartenstein". Nach einigen Wochen haben mir die Studierenden einen 15seitigen Katalog von Fragen gesandt, die sich für sie aus der Lektüre ergeben haben. In einem Brief vom 7. Mai 2021 habe ich versucht, auf einige dieser Fragen eine Antwort zu finden.

Adolphi 2021: Brief an Studierende zum Roman "Hartenstein"

7. Mai 2021

Brief an die Studierenden, die sich in ihrem Seminar mit dem 1. Band meines Romans „Hartenstein“ beschäftigen

Verehrte Studierende,

nehmen Sie bitte meinen sehr herzlichen Dank dafür entgegen, dass Sie dem Vorschlag Ihres Professors gefolgt sind und meinen Roman „Hartenstein“ zum Gegenstand Ihres Studiums gemacht haben. Das ist ein so von mir noch nie erlebter Vorgang, ein wahrhaftig einschneidender Moment in meinem Leben, und die vielen, vielen Fragen, die Sie schon nach so kurzer Lese- und Gesprächszeit notiert haben, sind für mich ein großes Glück.

Denn – wie Sie meinem Lebenslauf, den Sie auf meiner Website asiaticus.de finden, entnehmen können (oder vielleicht schon entnommen haben) –: Ich bin nicht immer schon Schriftsteller, sondern habe erst jenseits meines 50. Lebensjahres begonnen, Romane zu schreiben, und an die „Hartenstein“-Trilogie habe ich mich gar erst jenseits des 60. Lebensjahres gewagt. Und mein Schriftstellerdasein ist ein ganz anderes, als es in Filmen gern gezeigt wird. Ich produziere damit keine Einnahmen, von denen ich leben könnte, und ich habe keinen großen Verlag, der für mich eine Werbekampagne starten und mich (von den Pandemiebedingungen mal abgesehen) von Lesung zu Lesung schicken würde. Und so ist es eine für mich sehr außergewöhnliche Situation, dass sich eine ganze Gruppe von Menschen gleichzeitig ans Lesen macht, übers Gelesene spricht und daraus Fragen ableitet. So wird der „Hartenstein“ plötzlich auf vielfache Weise lebendig. Denn schon, wenn das geschriebene Buch nur ein einziges Mal von einem anderen Menschen gelesen wird, verdoppelt es sich, verbinden sich die Informationen und Bilder des Buches mit dem Wissen, den Erfahrungen, den Urteilen und Vorurteilen, den Erwartungen, der Neugier, den Lesewünschen der oder des Lesenden. Welche Rolle spielt bei all dem der Altersunterschied, welche das Herkommen, welche die politische Überzeugung? So viele Fragen.

 

I

Das für mich schönste Echo auf meinen „Hartenstein“ ist, wenn Sie den Roman als Anregung nehmen, sich in Ihrer Familie selbst auf Spurensuche zu machen. Dann tritt auf einmal all das, was ich aufgeschrieben habe, hinter Ihre eigene Suche zurück. Dann sind Sie auf einmal auf ganz neue Weise mit Ihrem eigenen Herkommen, Ihrer eigenen Entwicklung verknüpft, überlegen ganz neu, wer Sie sind und wer Sie wann und wie und aus welchen Gründen besonders beeindruckt, beeinflusst, gefördert oder gebremst hat, und dann öffnet sich auch der Blick auf die Gesellschaft neu.

Freilich: Diese Spurensuche ist Arbeit. Ich lese in der Aufreihung Ihrer Fragen: „Das Buch hat mich selbst über meine Familiengeschichte nachdenken lassen und in mir die Neugier nach eigener Aktenanforderung beim Bundesarchiv für Personen- und Ahnenforschung geweckt. Gleichzeitig kommt die Frage in mir auf, was, wenn ich die Antworten zu meinen Fragen nicht aushalten kann? Was, wenn hier ein gut gehüteter Teil meiner Familiengeschichte zu Tage kommt und ich eine Nazivergangenheit habe?“

Ja, was dann? Dann werden Sie – das jedenfalls wünsche ich Ihnen – Ihr ganzes bisheriges Wissen über die Zeit des Faschismus und über Ihre Familie darin auf den Prüfstand stellen. Und Sie werden es hoffentlich klug und einfühlsam tun. Denn es geht um Ihre Wurzeln, Ihr geistig-kulturelles Erbe, und es nützt Ihnen nichts, wenn Sie so tun, als könnten Sie es mit einer heftigen Gebärde abstreifen – und schon wäre es für immer und ewig verschwunden.

Es hat den Versuch eines heftigen Abstreifens ja immer wieder gegeben. Als dafür besonders typisch scheint mir der Gestus eines Teils jener „68er“ zu sein, die in der Geschichte der Bundesrepublik heute schon zu einer Art Legende geworden sind. Sie haben oft – ich war nicht dabei, habe in der DDR gelebt, aber kenne eine Menge Literatur dazu – auf radikale Weise mit ihren Eltern gebrochen, haben sich für eine Lebensweise entschieden, die im gewollt krassen Widerspruch zu der der Eltern und Großeltern stand, haben diesen krassen Widerspruch auch umfänglich thematisiert und beschrieben, und das schien ihnen der sicherste Weg dafür zu sein, einem künftigen Faschismus allen Nährboden zu entziehen (wobei sich der Begriff der „Eltern“ und „Großeltern“ oft gleichermaßen sowohl auf die konkreten Verwandten als auch auf deren gesamte Generation bezog).

Ich will hier über die Motive dieses Handelns nicht richten, aber doch sagen, was mir daran Unbehagen bereitet. Und das ist zweierlei: erstens die Dämonisierung und zweitens die Oberflächlichkeit.

Was meine ich mit Dämonisierung?

In dem Bestreben, sich so konsequent und eindeutig wie nur irgend möglich vom Faschismus zu distanzieren, liegt die Gefahr, die Menschen, die in diesem Faschismus gelebt und sich nicht in den Widerstand begeben haben – also die übergroße Mehrheit der Deutschen – vollständig von der eigenen Person abzutrennen. Angesichts der heute so umfassend vorliegenden Kenntnisse über den Völkermord an den Jüdinnen und Juden, über die beispiellose Brutalität der Kriegführung, über die Pläne zur vollständigen Unterjochung des Ostens, über die damit verbundene Vernichtung bedeutender Teile der slawischen Bevölkerung und über den für all dies eine Voraussetzung darstellenden Terror gegen die politischen Gegner im Innern erscheint es ganz und gar undenkbar, etwas gemeinsam zu haben mit den Menschen aus dieser Zeit. Es scheint nicht vorstellbar, dass es einen normalen Alltag geben konnte mit normalen Tätigkeiten, Verhaltensweisen und Gefühlen angesichts der Allgegenwart von Konzentrationslagern, Zwangsarbeit, Diskriminierung und Verschleppungstransporten. Und weil es insgesamt so unvorstellbar ist, erscheinen auch die einzelnen Menschen nicht mehr als Menschen vorstellbar; entsteht der Eindruck, sie würden, wenn sie sprechen, ohnehin nur noch lügen. Es reicht dann, wenn jemand den Satz sagt: „Das habe ich nicht gewusst“ – und ein fertiges Urteil liegt auf der Hand. Denn das – vor allem – scheint den Nachgeborenen ganz klar zu sein: Wie kann da jemand nichts gewusst haben?

Aber was die realen Menschen gewusst haben und wie genau und in welchem Maße, und weiter: was sie dann gemacht haben mit diesem Wissen, wie es für sie handlungsleitend geworden ist oder werden konnte oder eben auch nicht, weil einem eingreifenden, verändernden Handeln tausend Hindernisse entgegengestellt waren – materielle, terroristische, ideologische, geistig-kulturelle –: Das alles will, wenn wir den realen Menschen gerecht werden wollen, im Einzelnen erforscht und erkundet sein. Womit freilich die Abtrennung von uns selbst immer schwerer wird. Sie gelingt leichter mit der Dämonisierung: der Verwandlung der realen Menschen in nicht mehr fassliche, immer fremder werdende Wesen.

Aber der Preis dafür, dass es auf diese Weise leichter gelingt, ist hoch. Denn das Abtrennen verstellt den Blick für das Heutige und die darin von den damaligen gar nicht so weit entfernten Gefährdungen. Und so gewinnt das Hineingehen in die Familiengeschichte seine große Bedeutung. Denn in ihm hat – jedenfalls dann, wenn er nicht kalkuliert ausgeschaltet wird – der Wille zum Begreifen bessere Chancen als im abstrakt Gesellschaftlichen. Es geht ernsthafter und tiefgründiger zu; Sympathie, Empathie und Antipathie treffen ins Herz.

Womit auch der Oberflächlichkeit der Kampf angesagt ist. Denn wenn es ums eigene Herkommen geht, willst du dich mit den Bildern, Sachverhalten und Abläufen, die dir in anderen Zusammenhängen zur Erklärung angeboten werden und dort von dir vielleicht als ausreichend empfunden werden, nicht begnügen.

 

II

Ich gebe Ihnen ein Beispiel, das ich ausführlich im zweiten Band des „Hartenstein“ – er trägt den Titel „Im Zwielicht der Spuren“ – behandelt habe und das seinen realen Hintergrund in den Vorgängen um einen Straßennamen hat. Im Roman geht es um die Hermann-Hartenstein-Straße, im realen Leben ging es um die Günther-Adolphi-Straße, die in der Stadt Merseburg so benannt wurde zur Erinnerung an den Professor für chemische Verfahrenstechnik Günther Adolphi, meinen Großvater.

 

Die Straße wurde benannt, und ein paar Monate später erschien ein Zeitungsartikel, dass das nicht gehe mit der Straße, denn es seien auf einem Dachboden Dokumente aufgetaucht, aus denen hervorgehe, dass Adolphi in Auschwitz beim Bau des Chemiewerkes eingesetzt gewesen sei. Es gab dann weitere Artikel, daraufhin Konferenzen, Beratungen, am Ende (2019) wurden die Straßenschilder entfernt, die Straße erhielt einen neuen Namen, die ganze „Affäre“ war beendet.

Ich will jetzt nicht die ganze Erzählung des 2. Bandes hier aufrollen, sondern nur auf ein Detail eingehen, bei dem die Frage der Gründlichkeit des Nachforschens besonders deutlich wird. Es müsse – schrieb ein Journalist in einem der Artikel über die Straßenfrage – bei der Beurteilung des Günther Adolphi die Frage beantwortet werden, ob er 1943 denn freiwillig nach Auschwitz gegangen sei, oder ob man ihn zu diesem Schritt gezwungen habe. Mir wurde sofort klar, dass diese Frage ganz aus dem heutigen Wissen heraus gestellt wurde und mit der Lebensrealität der damals Handelnden wenig zu tun hatte. Auschwitz – allein die Nennung dieses Namens genügt heute, um die Bilder des ganzen Arsenals der faschistischen Scheußlichkeiten vor uns aufstehen zu lassen: die mit teuflischer Planmäßigkeit und Effizienz betriebene Vernichtung der Jüdinnen und Juden, die Brutalität der Konzentrationslager, die Auslöschung menschlichen Lebens durch Zwangsarbeit. Wie konnte es sein, dass jemand freiwillig an diesen Ort gegangen ist?

Nun, auch wenn es uns widerstrebt: Wir müssen, wenn wir’s begreifen wollen, uns damit auseinandersetzen, was Günther Adolphi gedacht und gewusst haben kann und was um ihn herum gedacht und gewusst wurde.

Da ich das alles nicht mit ihm selbst besprochen habe und mir keine Dokumente zur Verfügung stehen, aus denen ich Authentisches über diese Situation erfahren kann, habe ich mich für die Romanform entschieden. Rede also über Hermann Hartenstein. Und was bedeutet das? Eine Ihrer Fragen, liebe Studierende, lautet, ob ein Roman nicht „Verharmlosung“ mit sich brächte, „da man sich in die Personen ‚hineinversetzt‘“ – oder vielleicht auch „genau das Gegenteil“? Ich denke, dass mein Verfahren eben genau nicht verharmlost, sondern gründlichere Erörterung ermöglicht.

Nehmen wir also den Februar 1943, den Monat, in dem Hermann Hartenstein in Auschwitz ankommt. Es hat zu diesem Zeitpunkt die massenhafte Vernichtung der Jüdinnen und Juden in den Gaskammern des KZ Auschwitz-Birkenau (etwa 3 km westlich von Auschwitz) noch nicht begonnen. Sie beginnt erst Mitte 1943. Was es in Auschwitz bereits gibt, ist das KZ Auschwitz – das „Stammlager“, so genannt, um es vom KZ Auschwitz-Birkenau und dem ebenfalls 1943 errichteten KZ Auschwitz-Monowitz zu unterscheiden –, und ein solches KZ ist für die deutschen Menschen dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Das ganze Land ist von KZ und seinen ungezählten Außenstellen überzogen. Auch im Chemiewerk Leupau – dem im Roman so genannten Werk, das sein reales Vorbild im Leunawerk, ein wenig aber auch im benachbarten Bunawerk in Schkopau hat – wird die Arbeit zu einem großen Teil von KZ-Häftlingen und aus allen Teilen Europas zusammengetriebenen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern verrichtet. Dies nicht einfach nur zu akzeptieren, sondern auch als richtig und notwendig zu empfinden, sind die deutschen Menschen durch eine jahrelange, überaus komplexe, viele überkommene Denkstrukturen geschickt sich zu Nutze machende Propaganda vorbereitet. Nationalistische Überheblichkeit, die Konstruktion der „Arier“ gegen die „Untermenschen“, Rassismus, Antisemitismus, ein Antikommunismus und Antibolschewismus, der die physische Vernichtung von politischen Gegnerinnen und Gegnern als normal erscheinen lässt, die Diskriminierung gleichgeschlechtlich Liebender wie auch von „Asozialen“, die Konstruktion des „unwerten Lebens“ als Begründung für die Sterilisation und Tötung von Menschen mit Behinderung – all das ist in dieser Zeit Inhalt tagtäglicher Beeinflussung.

Und hinzu kommen die umfassende und strafbewehrte Geheimhaltung und die Verschleierung der konkreten Vorgänge. Während es also ein ganz allgemeines Wissen um die Existenz von – ähnlich wie Gefängnisse und Zuchthäuser weithin als durchaus notwendig empfundenen! – Konzentrationslagern (damals hießen sie K.L., nach dem Krieg hat sich die Abkürzung KZ durchgesetzt) gab und die Drohung „Pass auf, dass du nicht ins Lager kommst“ in mancherlei Alltagssituation funktionierte, wurde seitens der Herrschenden zugleich sehr viel dafür getan, ein genaueres Wissen um die Zustände und Vorgänge nicht entstehen zu lassen. Entlassene hatten bei Strafe ihres Untergangs über das Erlebte zu schweigen, Propagandafilme vermittelten ein völlig falsches Bild der wahren Verhältnisse, und die Orte, an denen die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden schon vor Auschwitz begonnen hatte, waren so weit im eroberten Osten errichtet worden – in den polnischen Orten Sobibor, Belzec und Treblinka –, dass sie – zumal unter den herrschenden Kriegsbedingungen – weit außerhalb der Reichweite der „normalen“ deutschen Bevölkerung lagen. Ich habe mich in den Bänden 2 und 3 des „Hartenstein“ – der dritte Band trägt den Titel „Der Enkel vorne links“ – auch unter Zuhilfenahme von Erinnerungsliteratur ausführlich mit dieser Frage des Wissens und Nichtwissens auseinandergesetzt und immer wieder gelernt, wie schwierig es ist, zu einem abschließenden Urteil zu gelangen.

Zurück also zur Frage der Freiwilligkeit: Sie an der genannten Stelle aufzuwerfen hat wenig Sinn. Hermann Hartenstein stand nicht vor der Frage, ob er freiwillig an einen Ort geht, an dem einmal eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen werden wird. Er stand vor der für ihn ganz normalen Frage, ob er den Arbeitsplatz in Leupau gegen einen in dem neu zu errichtenden, hochmodernen Chemiewerk Auschwitz-Monowitz eintauscht. Und er hatte Gründe, dies zu wollen, denn für einen Ingenieur ist es immer interessant, das Gewohnte gegen etwas Neues, von ihm von Beginn an mit zu Entwickelndes einzutauschen.

Und weiter: Er war mit dieser Entscheidung nicht allein. Mit ihm gingen gleichzeitig einige Hundert Ingenieure, Industriekaufleute, Werkmeister, Verwaltungsfachleute und Büroangestellte nach Auschwitz, alle von den IG Farben dorthin versetzt, also im gleichen Konzern bleibend, und es geschah dies alles als normaler Vorgang.

Eine andere Frage ist, was dann in Auschwitz geschah. Wieviel die Frauen und Männer, die dorthin versetzt waren, tatsächlich und in welcher Detailliertheit über das KZ Auschwitz-Monowitz, das im Auftrag der IG Farben direkt am Werk errichtet worden war, wie auch über das Stammlager und schließlich das 8 Kilometer westlich liegende Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erfuhren. Es ist nicht nebensächlich, bei dieser Frage immer auch die Dimensionen des Geschehens im Auge zu haben: Das Gelände des neu entstehenden Werkes umfasste eine Fläche von zwei mal fünf Kilometern, also zehn Quadratkilometern. Und das gesamte Gebiet mit den drei Lagern und der Stadt lag selbstverständlich unter scharfer Kontrolle der SS, die Lager dabei immer noch einmal weiträumig gegen unerwünschte Annäherung abgeschirmt.

Wenn ich das alles zu erklären versuche: Betreibe ich damit Rechtfertigung des damaligen Handelns? Ich glaube nicht. Es gibt keine Rechtfertigung.

Und darum hat meine Suche nach Erklärung ein anderes Ziel. Ich will verstehen, wie die Verhältnisse beschaffen waren, die aus „normalen Menschen“ eine solche Art von Täterinnen und Tätern haben werden lassen wie die, die dieses Chemiewerk in Auschwitz-Monowitz errichtet haben. Damit erkennbar wird, wenn sich die Verhältnisse wieder in eine solche Richtung bewegen. Und damit wir Heutigen uns nicht automatisch gefeit fühlen vor einem Täterin- und Täterwerden. Weil der Weg vom „Normalen“ dorthin gar nicht so weit ist, wie es uns scheinen mag.

 

III

All diese Überlegungen wollte ich, als sich in Merseburg die von der Zeitung angestoßene Debatte entwickelte, gern auch in der Zeitung diskutieren. Ich dachte mir, dass es möglich sein müsste, mit der Debatte über meinen Großvater ein Fenster zu öffnen hin zu der längst überfälligen Diskussion über die Verbindung zwischen den Chemiewerken in Leuna und in Auschwitz-Monowitz 1941-1945 überhaupt. Denn das wurde mir während meines Schreibens und in den Debatten um den Straßennamen auf sehr schmerzliche Weise bewusst: Es ist dieses Thema noch nie ein Gegenstand des öffentlichen Gesprächs gewesen. Auch nicht in der DDR, in der doch an vielen anderen Stellen eine sehr offene und offensive Auseinandersetzung mit dem Faschismus stattgefunden hat.

Warum aber wurde in Leuna und Schkopau – und anderswo sicher auch, aber auf diese beiden Orte bezieht sich nun einmal mein Roman – dieses Kapitel der Werks- und Stadtgeschichte so konsequent beschwiegen? Das wollte ich gern wissen, und ich hatte gehofft, dass die Zeitung einen Anstoß geben würde zum öffentlichen Gespräch, aber meine Hoffnungen sind nicht in Erfüllung gegangen. Es hat auch jetzt keine offene Debatte gegeben, niemand unter den nach Tausenden zählenden Nachkommen der am Werksbau in Auschwitz Beteiligten hat sich durch die Zeitungsartikel aufgerufen gefühlt, sich zu äußern oder Erinnerungsstücke zu präsentieren, die die damalige Situation erhellen könnten. Und als – wie ich in Band 2 des „Hartenstein“ ausführlich dargestellt habe – im Jahre 2016 die Bundeskanzlerin Angela Merkel in Leuna eine Rede zu 100 Jahren Chemie in Leuna gehalten hat, nannte sie weder den Namen des Kriegsverbrecherkonzerns IG Farben, zu dem Leuna und das Werk in Auschwitz gehörten, noch fand sie ein einziges Wort für die Verbindung zwischen Leuna und Auschwitz. Immer, wenn am 27. Januar der Opfer des Völkermordes an den Jüdinnen und Juden, der Shoah, des Holocaust gedacht wird, muss ich an diese Rede denken, denn sie zeigt, wie wenig der Geist dieses Gedenktages 27. Januar in den Alltag der in Deutschland Herrschenden eingedrungen ist.

Nun gibt es in Merseburg die Günther-Adolphi-Straße nicht mehr, und es steht zu befürchten, dass es damit auch die Debatte um die Vergangenheit Leuna-Auschwitz nicht mehr gibt. Ich blicke zurück und muss erkennen: Nur dadurch, dass es Menschen gab, die meinen Großvater für seine in der DDR erbrachten Leistungen beim Wiederaufbau der Leunawerke nach dem Krieg, in der Entwicklung neuer chemischer Verfahren und in der Lehre und Forschung an der Technischen Hochschule für Chemie „Carl Schorlemmer“ mit einem Straßennamen ehren wollten, ist das Thema Leuna-Auschwitz überhaupt in die Öffentlichkeit gekommen – und nun, da der Straßenname weg ist, ist auch das Thema wieder weg. Es war alles an die eine Person gebunden.

Das ist es, liebe Studierende, was ich mit Dämonisierung meine. Man hat diesen einen Menschen, der 1982 gestorben ist, von der Gesamtentwicklung abgetrennt, hat ihn dämonisiert, und nun ist der Dämon wieder weg, und da muss das Thema nicht länger kümmern. Es stört nur auf dem jetzt so erfolgreichen Weg des Chemiestandorts Leuna.

 

IV

Und welches sind nun die Fragen, vor denen wir heute die Augen verschließen? Welches die bedrohlichen Verhältnisse, von deren Existenz wir zwar wissen, aber aus diesem Wissen kein Handeln ableiten?

Beantworten Sie diese Fragen für sich selbst. Und prüfen Sie genau, welche Begründungen für ein Nicht-Handeln für Sie bereit stehen und von Ihnen ausgewählt werden.

Nehmen wir ein paar naheliegende – das heißt in Ihrer unmittelbaren Nachbarschaft auftretende – Fragen: Was wissen Sie über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der (allermeist ausländischen) Arbeiterinnen und Arbeiter in der Fleischverarbeitung? Oder in der Spargelernte? Oder derjenigen, die zu Zehntausenden die LKWs über die Autobahnen steuern? Und wenn Sie Kenntnis darüber erlangen, was da alles nicht in Ordnung und eigentlich überhaupt nicht tolerierbar ist – was tun Sie, um diese Verhältnisse zu ändern?

Gehen wir ein Stück weiter in die (nur scheinbare) Ferne. Was passiert mit Ihnen angesichts des Wissens über das Schicksal tausender Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken, weil die Europäische Union ihnen Asyl verweigert? Was machen Sie mit den Bildern aus den Kriegen im Jemen, in Syrien, in Libyen? Bei denen Sie wissen, dass sie ohne die Waffen auch aus Deutschland und der EU nie geführt werden könnten?

Ich stelle diese Fragen nicht, um über die Antworten zu richten. Ich stelle sie, um Ihr Nachdenken darüber anzuregen, was die Menschen in der Zeit des Faschismus dann, wenn sie etwas wussten, mit diesem Wissen anfangen konnten. Und dabei bitte ich Sie auch das Folgende zu bedenken: Wir wissen heute unendlich mehr über die Verhältnisse in Deutschland und in der Welt, als es die Menschen damals tun konnten. Wir haben Fernsehen, Internet, und wir haben ein breites Spektrum von Sendungen und Meinungsäußerungen. Wir haben einen Mainstream, aber wir haben zugleich sehr kritische Sendungen, die die Verhältnisse mit großer Konkretheit bloßlegen. Zum Beispiel, wie unglaublich weit verbreitet in unserer modernen Welt die Sklaven- und die Kinderarbeit sind. Und trotzdem immer wieder die bohrende Frage: Was machen wir mit diesem Wissen?

Was werden Sie sagen, wenn Ihre Enkelinnen und Enkel Sie fragen werden, wieso Sie das Untolerierbare tolerieren konnten?

Ich habe weiter oben gefragt, welche Begründungen für ein Nicht-Handeln für Sie bereit stehen. Da gibt es welche, die stecken irgendwie schon in uns drin, sind überliefert und nie hinterfragt, etwa dergestalt: „Das ist doch alles ganz weit weg“; „damit habe ich doch nichts zu tun“; „ich kann mich doch nicht um alles kümmern.“ Dann gibt es welche, die werden uns mit Kalkül angeboten: „Die Spargelstecher sollen froh sein, dass sie hier überhaupt Arbeit haben, bei ihnen zu Hause sieht’s nach 40 Jahren Kommunistenherrschaft immer noch trostlos aus“; „Was können wir für die Kriege in der dritten Welt?“ Alles zusammen läuft auf „das Fremde“ hinaus, und je fremder uns „das Fremde“ wird – oder gemacht wird –, umso stärker trennen wir es von uns ab und sinkt unsere Fähigkeit, es als Teil von uns selbst zu verstehen und zu behandeln.

Und da spielen nun die allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen unseres Lebens eine ganz entscheidende Rolle. Prüfen Sie selbst, was es für Sie bedeutet, wenn die von Freiwilligen betriebene Rettung von Flüchtlingen aus Seenot nicht nur durch die offiziellen Grenzschutzorgane der EU erschwert und fast unmöglich gemacht wird, sondern diese Freiwilligen dann auch noch vor Gericht gestellt werden. Und wie Sie mit den für dieses Vorgehen geltend gemachten Begründungen umgehen. Und welche handlungsleitenden Schlussfolgerungen Sie ziehen.

Eine gefährliche Zuspitzung erfährt der ablehnende Umgang mit „dem Fremden“, wenn es zum alle Bereiche des Lebens erfassenden Feindbild ausgebaut wird. Für eine solche zielgerichtete Vorgehensweise bietet der faschistische Antisemitismus den dramatischsten Anschauungsunterricht. Aber nicht nur er allein. In vergleichbarer Weise wurden der Antislawismus und der Antiziganismus zum Alltagsbewusstsein entwickelt, und auch mit der politischen Gegnerschaft wurde so verfahren. Antimarxismus, Antikommunismus und Antibolschewismus hatten eine Dimension, die es möglich machte, das terroristische Vorgehen gegen deren Anhängerinnen und Anhänger als „ganz normal“ erscheinen zu lassen und einen gewaltsamen Abtransport in ein KZ als „notwendig“. Ein noch weiter gesteigertes Feindbild gipfelte im Herbeireden einer „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“.

An dieser Stelle mach ich erst einmal Schluss. Wir werden ja miteinander im Gespräch bleiben. Schon heute weiß ich: Wir werden dabei nicht zu einem Ende kommen. Denn das gilt ganz ausdrücklich: Es ist in diesen unser Leben betreffenden Fragen nicht zu einem Ende zu kommen. Es gibt keine endgültigen Antworten. Es gibt nur immer wieder neue Fragen, weil mit jeder Antwort die Fragefähigkeit an Kraft gewinnt, mit neuem Stoff sich füllt und neuen, weitertreibenden Anstoß erfährt.

Mit freundlichen Grüßen, Wolfram Adolphi