Die Bundestagswahlen am 26. September 2021 haben der LINKEN einen schweren Schlag versetzt. Mit nur 4,9 Prozent der Stimmen hat sie die 5-Prozent-Hürde nicht genommen; nur der Gewinn von drei Direktmandaten sichert ihr die Existenz einer Bundestagsfraktion, die freilich mit 39 Sitzen sehr klein ist. Nun schlagen die Wogen hoch. Ich meine, dass die Fragen, woran es gelegen hat, nur mit Geduld und Gründlichkeit beantwortet werden können

Adolphi 2021: Meine Partei. Eine Skizze

Wolfram Adolphi/05.10.2021

Meine Partei. Eine Skizze

Meine Partei – erfahre ich aus dem Munde von Menschen, die schon lange an ihrer Spitze stehen – müsse sich nach der schweren Niederlage, die sie gerade (am 26. September 2021) bei den Bundestagswahlen erlitten hat, „neu erfinden“. Auch von „schonungsloser Aufarbeitung“ geht die Rede und der Notwendigkeit, endlich „reinen Tisch“ zu machen.

Ich versuche, zu verstehen, was gemeint sein könnte. Trage also alles Mögliche an Beobachtung zusammen und werde – versprochen! – dabei niemand namentlich nennen und niemand beschimpfen.

Obgleich ich doch so viele schon so lange kenne. Denn meine Partei ist meine Partei. Ich habe im Herbst 1989, als zwanzig Jahre lang die SED meine Partei gewesen war, nicht gesagt: „Mal zurücklehnen und gucken, was jetzt aus ihr werden wird“, und schon gar nicht wollte ich sie zum Teufel lagen oder ihr das Mitgliedsbuch auf den Tisch knallen, sondern mir war danach – und ich hatte Gründe dafür –, mich ins Zeug zu legen für sie und an Veränderung nicht nur zu glauben, sondern an ihr zu arbeiten. Das ist dann auf dem Weg von der SED zur PDS und in deren ersten anderthalb Jahren mit euphorischem Tatendrang, aufreibenden Funktionen und wahlerkämpften Parlamentsmandaten auch wirklich geschehen, hat aber im Sommer 1991 ein bitteres, mir selbst zuzuschreibendes Ende gefunden, und da stand ich vor der Frage, ob wir noch zusammenpassen konnten, meine Partei und ich, und wir konnten, weil es Basisarbeit gab und eine Zeitschrift, die sich um Theorie und Geschichte bekümmerte, und so blieben wir aneinander, die Partei und ich, und von 1998 bis 2002 und von 2005 bis zum Renteneintritt 2016 nahm sie mich in Gestalt des Bundestagsabgeordneten Roland Claus noch einmal in Lohn und Brot.

Auf solchem Wege entsteht, was sich Erfahrungsschatz nennen lässt. In so viel Auf und Ab. Persönlichem und Parteilichem. Und wie sehe ich sie also, meine Partei?

Gegen und für Geschlossenheit

Nach Niederlagen ist in meiner Partei ein Ruf besonders laut zu hören: der nach Einheit und Geschlossenheit. Dabei ist nichts abwegiger als das.

Als die SED sich daran machte, PDS zu werden, brach sie „unwiderruflich mit dem Stalinismus als System“. Sie verabschiedete sich damit unwiderruflich auch von der von Lenin gedachten und entwickelten „Partei neuen Typus‘“ als einer disziplinierten, politisch-ideologisch einheitlich und geschlossen auftretenden Kampfgemeinschaft. Lenin, als er dieses Konzept verfolgte, hatte Gründe. Meine Partei, als sie sich von ihm verabschiedete, auch. Denn die Aufrechterhaltung von Disziplin und Einheit und Geschlossenheit erforderte Gremien zur Kontrolle und Durchsetzung, und die wollte die neue Partei nicht, und die hat sie auch nicht. Und so gibt es in logischer Konsequenz einen weit gefassten Meinungspluralismus und praktisch keine Beschlüsse, deren Einhaltung oder Nichteinhaltung kontrolliert, diskutiert und – im Falle der Nichteinhaltung – mit Sanktionen belegt werden könnte. Die einzige Ausnahme ist bis heute der Beschluss von 1991 geblieben, wonach sich Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit beim Anstreben von Funktionen oder Mandaten offenbaren müssen.

Erlaubt sind nicht nur sehr unterschiedliche, sogar bis ins rechts-konservative Lager reichende politische Positionen und Ansichten; erlaubt ist es auch, drei Tage vor einer Wahl öffentlich von der Wahl der eigenen Partei abzuraten; erlaubt ist es, in der Friedensfrage sehr unterschiedliche Positionen zu vertreten; und nicht nur erlaubt, sondern geradezu zum Sport erhoben ist die öffentliche Beschimpfung von Genossinnen und Genossen, die eine andere Auffassung haben als die jeweils Beschimpfenden. Daran ist nichts zu ändern, das wird so bleiben, das ist der Preis von Pluralismus und Freiheit. Da ist auch kein „Sich-neu-Erfinden“ möglich.

Kein Marx, kein Marxismus, kein Lenin, nicht wirklich Luxemburg oder Gramsci – aber was dann?

Indem meine Partei mit dem Stalinismus brach, verabschiedete sie sich zugleich auch vom Parteilehrjahr und im Grunde auch vom Marxismus. Marx, Engels, Lenin, Luxemburg, Gramsci lesen oder nicht ist seither jeder und jedem selbst überlassen; beliebige andere Namen haben das gleiche Gewicht; wir wissen es nicht und auch nicht voneinander. Es gibt nicht nur keine politisch-ideologische Geschlossenheit, sondern es gibt überhaupt kein gemeinsames Werte- und Anschauungssystem, keine gemeinsamen Kategorien und Begriffe zur Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und auch keine gemeinsamen Zielvorstellungen. Bis 2007 trug meine Partei noch den Begriff des „demokratischen Sozialismus“ im Namen, das heißt, sie besaß eine benennbare Idee, ein vom Jetzt unterschiedenes Ziel. Dann gab sie diesen Namen im Interesse der Vereinigung mit der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) auf und nannte sich fürderhin nur noch DIE LINKE. Das ist ein schwammiges Wort, erklärbar immer nur in Bezug auf andere – „links von …“ – und in vielerlei Hinsicht auslegbar. Was DIE LINKE gesellschaftlich links von der SPD, die sich auch und immer als „links“ definiert, erreichen will, verunklart sich von Jahr zu Jahr mehr.

Aber warum denn nun Marx? Weil mit ihm die gesellschaftlichen Verhältnisse von den Eigentums- und Produktionsverhältnissen her betrachtet und diese als das alles Entscheidende angesehen werden; weil mit ihm gesellschaftliche Klassen und Schichten identifiziert werden können und die mit diesen je verbundenen, ihr Handeln determinierenden, in dem einen Fall auf Bündnisfähigkeit, dem anderen auf Unversöhnlichkeit hinauslaufenden Interessenlagen; weil allein die folgenden beiden Sätze ein Universum an Gesellschaftsverständnis und Gesellschaftsstrategie öffnen: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“; und weil mit seinem „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, ein Ziel gesetzt ist, das in seiner Klarheit nicht überboten werden kann.

Und weiter: weil mit der marxschen Methode – um ein aktuell besonders wichtiges Beispiel zu nennen – von Horkheimer 1939 eine der wohl besten Faschismusanalysen überhaupt erarbeitet worden ist, die dann in der marxistischen Forschung durch das Projekt Ideologietheorie (PIT) 1980 in der Bundesrepublik auf höchst interessante Weise vertieft und erweitert wurde (2007 von meinem Genossen Klaus Weber in München neu herausgegeben). Spielt das heute für die Theorie und Praxis meiner Partei eine Rolle?

Warum Lenin? Zum Beispiel wegen seiner Auffassungen zur Partei. Und zu Staat und Revolution. Und Luxemburg? Weil sie – zum Beispiel – die Rolle des Parlaments in der bürgerlichen Gesellschaft glasklar beschrieben hat und all die Gefahren, die sich für die Sozialistinnen und Sozialisten aus dem Mitmachen ergeben. Und Gramsci? Weil sich mit ihm trefflich über gesellschaftliche Hegemonie streiten und der Machtblock begreifen lässt, der unser Leben bestimmt – und der ist viel mehr als das Resultat des Wahlsieges der einen oder anderen Partei.

Meine Partei weiß (vielleicht), dass es in Deutschland seit fast 30 Jahren das große international gestaltete Projekt des „Historisch-kritischen Wörterbuches des Marxismus“ gibt. Sie weiß (vielleicht), dass dort zu allen wichtigen Begriffen und Kategorien der gesellschaftlichen Entwicklung umfangreiche Ausarbeitungen angefertigt worden sind (jedenfalls bis zum Buchstaben N, bei dem man sich jetzt befindet). Man könnte mal nachschauen, einfach mal so (steht natürlich alles im Netz): Marxismus, Marxismus-Leninismus, Kaderpartei, Kommunistenverfolgung, Linie Luxemburg-Gramsci usw. usf.

Und wozu soll’s gut sein? Nein, nicht für die „politisch-ideologische Geschlossenheit“. Aber für die Herstellung von Grundlagen gemeinsamen Denkens und Handelns. Für die ganz allmähliche Infragestellung der Beliebigkeit. Für die Erleichterung des Streits durch ein genaueres Wissen darum, worüber der Streit eigentlich geht.

Und wer den Marxismus für veraltet hält, sollte sich fragen, warum Hitler ihn „mit Stumpf und Stiel ausrotten“ wollte, die Herrschenden der Bundesrepublik ihm mit dem Verbot der KPD 1956 einen schweren Schlag versetzt haben und er auch vom heutigen Machtblock so hartnäckig diskreditiert und bekämpft wird.

Keine Geschichtsschreibung

Meine Partei war sich 1989 weitgehend einig, dass ein großer Fehler der SED darin gelegen hat, dass sie die marxistische Gesellschaftsanalyse nicht auf ihre eigene Geschichte angewandt hat. Es gab keine selbstkritische Geschichtsarbeit, keine klare Fehlerbenennung, es wurde verschwiegen und zurechtgestutzt.

Und was hat meine Partei daraus gelernt? Welche Geschichtsarbeit leistet sie? Keine. Es ist eine logische Konsequenz der Beliebigkeit der Ansichten und Positionen, dass Geschichte nicht zu schreiben ist, weil keine Linien erkennbar sind und so auch Fehler nicht scharf hervortreten. Die 4,9 Prozent vom 26. September – sind sie das Resultat von zu viel oder zu wenig Radikalität? Niemand weiß es. Das Ergebnis von zu viel oder zu wenig vorauseilender Dienstbarmachung? Niemand weiß es. Das Ergebnis der Leistung dieses oder jenes Führungsduos? Auch das weiß niemand.

Wissen kann jeder, dass die jetzige Bundestagsfraktion mit einer Stärke von 39 Frauen und Männern 7 ehemalige Parteivorsitzende in ihren Reihen hat (von in ihrer ganzen Geschichte 10). Es sind also alle Perioden von Erfolg und Misserfolg durch das jeweilige Führungspersonal (Fraktions- und Parlamentsspitzenfunktionen eingeschlossen) repräsentiert, und fasst man den Blick noch ein wenig weiter, findet man auch einige Partei- und Fraktionsvorsitzende der Länderebene, und darunter auch solche, die den Sprung in den Bundestag nicht im Ergebnis von Erfolg, sondern im Gegenteil von Misserfolg – nämlich den unter ihrer Führung entstandenen dramatischen Stimmenverlusten – geschafft, sich also von der Ebene ihrer direkten Verantwortung „nach oben“ verabschiedet haben.

Wer will sich da „neu erfinden“?

Aber wäre Rebellion der Ausweg? Wohl kaum. Die Fraktion ist ja nicht zufällig so zusammengesetzt. Sie ist so zusammengesetzt, weil es die Nominierungsversammlungen in den Ländern so wollten. So ist sie gestrickt, meine Partei. Sie schreibt ihre Geschichte nicht, und so kann sie aus ihr keine Schlussfolgerungen ziehen, und so sorgt sie sich auch kadermäßig um die Fortsetzung der Beliebigkeit. Es sind wieder alle Strömungen und Positionen vertreten, und alle ziehen ihre je eigenen Schlussfolgerungen, und alles bleibt beim Alten.

Das Problem der nicht geschriebenen Geschichte betrifft übrigens nicht nur die Zeit seit 1990, sondern auch die davor. Welchen Platz haben SED und DDR in dieser Geschichte? Welche eigenständigen, vom herrschenden Mainstream deutlich unterschiedenen Positionen dazu hat meine Partei? Und welchen Platz haben in ihrem Geschichtsbild das KPD-Verbot in der BRD, die DKP und die vielen kleinen kommunistischen und maoistischen Parteien und Gruppen? Wo ist der MSB Spartakus? Wo und wie also sind die vielen historischen Quellen gewürdigt, aus denen sich meine Partei speist? Und was wissen wir darüber, wie und warum sich diese Parteien und Strömungen einst bekämpften? Und wie ragt einstige Gegnerschaft ins Heute?

Und noch mehr: Indem die Vereinigung als Beitritt der DDR zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes – mithin als Anschluss – vollzogen wurde und nicht als tatsächliche Vereinigung zweier sehr unterschiedlicher Staaten und Gesellschaften, wurde nicht nur die große Chance zur Erarbeitung einer das Grundgesetz ablösenden Verfassung für Deutschland vergeben, sondern auch die der Entwicklung eines neuen, von den Folgen der Spaltung befreiten Geschichtsbildes.

Und meine Partei hat dem nichts entgegenzusetzen vermocht. Ich will an einem Beispiel zeigen, wie folgenreich das ist:

Für den verheerenden Machtzuwachs des Faschismus in Deutschland Anfang der 1930er Jahre hatten die SPD in der BRD und die SED in der DDR u. a. jene Erklärungen parat, die schon SPD und KPD zuvor gegeneinander parat hatten: „Schuld war die KPD“, sagte die SPD, und „Schuld war die SPD“, sagte die SED. „Ein vereintes Handeln hätte den Faschismus verhindert“ – dieser Gedanke spielt bis heute eine große Rolle, und das ist ja auch kein Wunder, denn in der Tat war er für viele Sozialdemokraten und Kommunisten nach 1945 handlungsleitend, und die SED zog aus ihm ihre Vereinigungslegitimation, und bis heute lebt er im Bewusstsein vieler fort – wie sich jüngst bei den Bundestagswahlen in Thüringen zeigte, wo es einen Aufruf an die LINKE gab, einen SPD-Kandidaten zu wählen, damit dieser den für seine rechtskonservativen und AfD-affinen Positionen bekannten CDU-Kandidaten schlüge. – Es muss jedoch die Frage gestellt werden, ob denn der Satz von der möglichen Verhinderung des Faschismus 1933 durch ein Zusammengehen der beiden Arbeiterparteien Parteien wirklich stimmt – oder ob er nicht eine Legende ist, mit der spätere Politiken begründet werden sollten. Denn ist es wirklich so, dass eine parlamentarische Mehrheit von SPD und KPD, wenn sie denn überhaupt zustande gekommen wäre, das Großkapital zum Umsteuern bewogen hätte? Und die NSDAP zum Aufgeben? NSDAP und wesentliche Teile des Großkapitals waren bereits durch Interessenübereinstimmung so fest miteinander verbunden, dass sie selbstverständlich zu einem Gegenschlag ausgeholt hätten.

Und die These von der Schuld der beiden Arbeiterparteien verdeckt auch etwas Weiteres. Indem sie von einem quasi automatischen Linkssein der Arbeiterklasse ausgeht, versperrt sie den Zugang zur Interessendifferenziertheit innerhalb der Arbeiterklasse und dann auch zum Begreifen des starken Schwenks eines großen Teils von ihr zur Nazipartei 1933.

Dies heute gemeinsam zu diskutieren erweist sich deshalb als notwendig, weil daraus Schlüsse gezogen werden können für den heutigen Aufschwung rechtskonservativen, faschistische Tendenzen in sich tragenden Denkens und Handelns; und wird – zum Beispiel – die von Horkheimer entwickelte Herleitung des Faschismus aus der kapitalistischen Produktionsweise zur Betrachtung hinzugenommen, so offenbart sich endgültig, dass es einer neuen, sozialistischen Strategie bedarf, die wirklich Alternative sein kann zum aktuellen Geschehen.

Zwei in einer

Meine Partei besteht noch immer aus zwei Parteien – einer im Osten und einer im Westen –, und das kann ja auch gar nicht anders sein, denn noch immer macht jede Deutschlandkarte, die die wesentlichen Wirtschaftsdaten und Sozialindikatoren grafisch ausweist, die einstige Teilung Deutschlands mühelos sichtbar. Hinzu kommen die nicht auf Landkarten ausweisbaren Faktoren wie unterschiedliche Geschichte und lebenskulturelle Tradition, und da nie Zeit gewesen ist, sich dessen verständnisvoll und konstruktiv bewusst zu werden, erschwert das die Kommunikation auch heute und weiterhin.

Die Mainstream-Verführung

Meine Partei – da sie in dem, was sich „die Politik“ nennt, und in der Medienöffentlichkeit nach wie vor als etwas Unnormales, nicht wirklich Dazugehörendes behandelt wird – hat ein großes Bedürfnis, sich aus dieser Situation zu befreien. Also zu beweisen, dass sie alles kann, was von „normalen“ Parteien erwartet wird. Aber seltsam: obwohl sie schon in den 1990er Jahren in Sachsen-Anhalt eine SPD-B‘90/Die Grünen-Regierung toleriert, dann in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg und wieder Berlin sowie in Bremen mit eigenen Ministerinnen und Ministern und Senatorinnen und Senatoren mitregiert hat und mitregiert, in Thüringen gar an der Spitze der Regierung steht und den Ministerpräsidenten stellt, im Bundestag Vizepräsidentinnen und Ausschussvorsitzende hatte, Landrätinnen und Landräte und Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister und ungezählte kommunale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger aus ihren Reihen kommen, hat sie den Zustand des „Normalen“ in den Augen des Mainstreams noch nicht erreicht.

Ich wünsche ihr ein Selbstbewusstsein, das da sagt: Das liegt nicht an uns, sondern an denen, die für sich in Anspruch nehmen, die Definitionshoheit über das „Normale“ zu haben und den Inhalt dessen, was an „normal“ zu gelten habe, ständig verändern.

Aber dafür muss sie sich von ihrer Abhängigkeit vom Mainstream lösen. Das ist es, wo es – für mich – mit Marx und Gramsci konkret wird: Es ist ein Irrtum anzunehmen, es gäbe unabhängige Medien. Medien sind immer interessengeleitet, das kann nicht anders sein, irgendjemand muss sie bezahlen, und sie werden gemacht, um verkauft zu werden, jeder einzelne Bericht, jeder einzelne Kommentar ist Bestandteil dieses Verkauft-werden-Müssens, und „Meinung“ im Journalismus beginnt nicht erst mit der ausdrücklich als solche bezeichneten Meinung, sondern bereits mit der Auswahl der Nachrichten und Themen, mit dem Bringen und Weglassen, mit der Reihenfolge, Länge und mit jedem zum „Fakt“ gemachten Adjektiv.

Und weiter: Der Mainstream, selbstverständlich, ist an der Aufrechterhaltung und Stärkung des Privateigentums und der kapitalistischen Produktionsweise interessiert. Die den Mainstream ausmachenden Medien sind Teil – und zwar immer gewichtiger werdender Teil! – des Machtblocks. Sie öffnen Türen und setzen Grenzen für den gesellschaftlichen Diskurs. Sie bauen Schubladen, um „klar“ und „einfach“ über Gesellschaft reden und urteilen zu können: „Verschwörungstheoretiker“, „Putinversteher“, „Globalisierungsgegner“, „Europaskeptiker“, „DDR-Nostalgiker“. Sie entscheiden, was „Regierungsunfähigkeit“ sein soll usw. usf.

In meiner Partei gibt es viele, sehr viele, die das genau wissen und sich trotzdem in ihrer Meinung über ihre Partei vom Mainstream leiten lassen. Die schöne Vorstellung, das Internet würde zu Unabhängigkeit vom Mainstream führen, weil sich jede und jeder ja nun direkt an der Quelle informieren könnte – also Parteipapiere lesen und Abgeordnetenreden und Presseerklärungen der Abgeordneten, die in den Medien zwar ankommen, aber durch diese nicht weitergetragen werden, weiter die zahlreichen Newsletter und Webseiten auf allen Ebenen –, hat sich nicht erfüllt. Hingegen werden große bürgerliche Magazine als richtungweisend und maßstabsetzend verstanden und behandelt. Das hat mit dem Selbstbewusstsein einer systemoppositionellen Partei nichts zu tun.

Und nun zeitigt diese Mainstream-Verführung seit einigen Jahren noch ein weiteres, durchaus dramatisches Ergebnis. Denn obwohl meine Partei in den Augen der „normalen“ Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen immer noch nicht „dazugehört“ und entsprechend behandelt wird, hat die AfD sie in den Kreis der „Etablierten“ befördert, um sich nun umso deutlicher als einzige Protestpartei zeigen zu können. In der Tat bietet meine Partei seit einigen Jahren dem Protestbedürfnis eines gewichtigen Teils der Bevölkerung keine Basis mehr. Das war in den Jahren 2004-2009 anders. Da, in der Tat, setzten sich die gewonnenen Stimmen – im Osten zwischen 25 und 30 Prozent! – aus programmatischer Treue, programmatischer Neugier und dem Willen zusammen, mit einer Stimme für die PDS/DIE LINKE den Herrschenden spürbar auf die Finger zu klopfen.

Die Parlamentsgrenzen

Im Parlament lauern verschiedene Fallstricke. So wird zwar einerseits die Opposition vom Mainstream als sehr wichtig und bedeutsam für die Demokratie bezeichnet, aber meine Partei macht unentwegt eine ganz andere Erfahrung: Sie hat in ihren drei Jahrzehnten Oppositionsarbeit im Bundestag in unerhörter Fleißarbeit und im Ergebnis schwierigster, kontroversester, oft an die Grenzen der Aushaltbarkeit gehenden Diskussionen innerhalb ihrer Bundestagsfraktion viele Tausend Anträge und Gesetzesvorlagen erarbeitet, die trotz all dieser Anstrengungen für ihre Wählerinnen und Wähler völlig bedeutungslos geblieben sind, weil sie von der Parlamentsmehrheit durchweg abgelehnt wurden. Will sagen: Die Parlamentsmehrheit hat den Wählerinnen und Wählern ein ums andere Mal bedeutet, dass Stimmen für meine Partei – also für die Opposition – verlorene Stimmen sind. Darum muss meine Partei viel Kraft dafür aufwenden, zu erklären, dass ihre Arbeit doch nicht umsonst ist, denn manche Idee, mancher Antrag tauchen irgendwann später in den Ideen und Anträgen anderer Parteien auf und werden dann vielleicht umgesetzt, und irgendwie hat meine Partei auch dazu beigetragen. Aber wer will das dann noch hören? Auch dafür hat der Mainstream immer sofort abwertende Urteile und Schubfächer parat. Das war sehr klar erkennbar in der Afghanistanfrage. Meine Partei war von Anfang an gegen diesen Krieg, hat immer gegen ihn gestimmt und die je verlängerten Mandate für die Bundeswehr immer in Frage gestellt, und sie hat im Juli 2021 Aktionen zur Rettung derer gefordert, die in Afghanistan für die deutschen Truppen gearbeitet haben, die aber von der Bundestagsmehrheit abgelehnt wurden, und obwohl sie doch nun eigentlich gewürdigt werden müsste für ihre Weitsicht und obwohl ihre Argumente eine gründliche Analyse verdienten, wurde all das hinweggewischt und ihr zum tausendsten Mal „Regierungsunfähigkeit“ attestiert. Und warum? Weil sie sich am Ende bei einem Beschluss, der eine bereits abgeschlossene – also in der Vergangenheit liegende – Aktion betraf, mehrheitlich enthalten hatte. Nur das zählte für den Mainstream. Nur das, nur dieser eine Vorgang – nach einem zwanzigjährigen sinnlosen Krieg.

(Und heute, da ich diese Zeilen schreibe, sind die Tage informationsmäßig mit Nachrichten darüber gefüllt, wer bei welchen Vorsondierungen für die künftige Bundesregierung wie geguckt hat, und wie schön es ist, dass alle Stillschweigen vereinbart haben, denn so hat man nun schon eine ganze Woche über keinen einzigen Inhalt geredet, und der Afghanistankrieg liegt in so weiter Ferne, dass kaum noch öffentlich über ihn geredet werden wird – auch nicht übrigens über jene als „Ortskräfte“ bezeichneten Menschen, die für ein paar Tage im Nachrichtenfokus standen und zu deren Rettung angeblich meine Partei nicht habe beitragen wollen.)

Der Fallstricke sind aber noch mehr. Ich habe nach den ersten Wochen der Pandemie meiner Partei den Vorschlag unterbreitet – erst als Brief an den Parteivorstand, dann als gedrucktes Papier in den „Mitteilungen der kommunistischen Plattform“ –, in der Corona-Pandemie einen eigenen, erkennbaren, berechenbaren Kurs zu entwickeln, und zwar dergestalt, dass wir die Kinder und ihre Interessen konsequent in den Mittelpunkt stellen. Aber schon im Schreiben war mir klar, dass es in einer Parlamentsfraktion eine Konzentration auf ein Thema nicht geben kann. Denn jede und jeder Abgeordnete sieht es als heilige Pflicht an, auf ihrem/seinem Fachgebiet zu glänzen und fleißig zu sein. Also den Anforderungen des Parlamentsbetriebs bestens zu genügen. Völlig undenkbar, dass die Fraktion mal entscheidet, dass an einem bestimmten Tag alle ihre Rednerinnen und Redner zum Schicksal der Kinder in der Pandemie sprechen – unabhängig vom jeweiligen Tagesordnungspunkt. Um mal eine richtige Welle zu machen, an der auch die Medien nicht vorbeikommen. Ist eine Pandemie nicht eine Ausnahmelage, in der auch außergewöhnliche Handlungen gefragt sind?

Im Ergebnis des Sich-nicht-entscheiden-Könnens ist meine Partei (auch) in der Coronafrage profillos geblieben. Es ist ihr nicht gelungen, die Pandemie als gesellschaftliches Verhältnis zu erkennen und ihre Strategie entsprechend zu entwickeln. In naiver Gläubigkeit hat sie sich der Zuversicht ergeben, die Pandemie werde zu einem rasanten gesellschaftlichen Umdenken führen, die ganze Gesundheitspolitik werde neu justiert usw. usf. Dabei hätte der einfache Blick in die Geschichte gereicht, um zu wissen, dass auf Pandemien dieses Ausmaßes stets weitere Krisen gefolgt sind, weil das Privateigentum auf naive Gläubigkeit keine Rücksicht nimmt. Aber in meiner Partei gibt es viele, die – von bestem Willen und Gewissen getragen – Mainstreamargumente wie „Jetzt können wir uns keine Grundsatzdiskussion leisten, jetzt müssen wir uns erstmal um die dringendsten Fragen kümmern, es geht schließlich um Menschenleben“ schon vorwegnehmen und damit – ganz gewiss ungewollt – zur Verschleierung der Interessenfragen beitragen. Das Ergebnis ist in der Gesellschaft zu sehen: Die Lage bei den Pflegerinnen und Pflegern ist heute dramatischer als zuvor, und es ist keine Verbesserung abzusehen. Keine der derzeit in Koalitionssondierungen verhakten Parteien wagt die Ankündigung, für deutlich verbesserte Gehälter bei den Pflegekräften zu sein. Kuhhandel vorbereiten ist wichtiger als Pandemiebekämpfung und Vorsorge für Künftiges.

Die Scheu, sich mit den Gegnern zu befassen

Eine sozialistische Partei in einer kapitalistischen Welt ist Gegnerin der Herrschenden und hat darum natürlich ihrerseits Gegnerinnen und Gegner, und es hat mit Demokratie nichts zu tun, wenn diese Gegnerschaft verschleiert wird. Dort gerade soll sich doch die Stärke der Demokratie beweisen: im Wechselspiel von Herrschenden und Opposition. Opposition ist das Entgegengesetzte, und da eine – übrigens von kaum jemand wirklich bezweifelte! – sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich mit erheblichen Auswirkungen auf gesellschaftliche Teilhabe das Leben unserer Gesellschaft bestimmt, die Gegensätze zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft also zunehmen, bedarf es der demokratischen Opposition umso dringender, weil sich die Gegensätze sonst auf andere Weise Luft machen und einen Ausweg suchen werden.

Die Jahre 1929-1933 sind ein Menetekel!

Demokratische Opposition heißt aber nicht: leise, gehorsame, stets auf Ausgleich bedachte Opposition. Sondern: energische, deutliche, selbstbewusste Opposition.

Zu der auch die Befassung mit den Gegnern gehört. Zu oft lässt sich meine Partei die Themen, mit denen sie sich befasst, und die Urteile, die sie abgibt, von den Gegnern vorgeben. Aber eine Opposition, die sich von den Herrschenden die Themen setzen lässt, schwächt sich natürlich selbst. Die Themensetzung selbst muss schon Bestandteil der oppositionellen Arbeit sein.

Im Wahlkampf gab es ein paar schlagende Beispiele. Irgendjemand in irgendeinem Umfrageinstitut hatte in die Welt gesetzt, Außenpolitik spiele bei diesen Wahlen keine Rolle. In meiner Partei fanden sich Genossinnen und Genossen, die das aufgriffen und zum Anlass nahmen, den in ihren Augen „dogmatischen Pazifisten“ mal richtig die Leviten zu lesen. Nicht nur seien deren Auffassung überholt, auch interessiere das Thema gar nicht so sehr, dass sich damit Stimmen gewinnen ließen. Und dann brach in kurzer Zeit die ganze Afghanistan-Politik der NATO und Deutschlands zusammen. Mitten in der Zeit des Wahlkampfes. Und es gelang dem Gegner – den Herrschenden und ihrem Mainstream –, das Thema trotzdem tatsächlich nur in einer einzigen Frage in den Mittelpunkt zu stellen: nämlich in der, meine Partei der Regierungsunfähigkeit zu überführen. Nur diese innenpolitische Instrumentalisierung war für die Berichterstattung wichtig – nichts sonst. Dass die NATO gerade dabei war (und ist), sich selbst in Frage zu stellen, spielte demgegenüber keine Rolle.

Erkennen muss meine Partei – denke ich –, dass es ein Interesse der Herrschenden gibt, die außenpolitischen Fragen klein zu halten, und dass sie – meine Partei – gerade deshalb eine oppositionelle Haltung einnehmen muss. In der die gewaltige Bedeutung aller Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik nur umso stärker hervorgehoben werden muss. Und die Abseitigkeit jeder Idee, die Friedensfrage sei eine von gestern hervorgehalt nur von einigen unverbesserlichen Nostalgikern oder Dogmatikern.

(Womit übrigens – wie immer – auch eine wichtige Geschichtsfrage aufgerufen ist. Welchen Platz haben Pazifisten wie Kurt Tucholsky und Siegfried Bonhoeffer in unserer Geschichte? Und die Deserteure und Kriegsdienstverweigerer?)

Und noch etwas wünsche ich mir von meiner Partei: dass sie um jeden Preis der Verlockung widersteht, sich so etwas auszudenken wie eine allgemeine „deutsche Außenpolitik“, hinter der sich alle Parteien versammeln, weil die Interessen aller deutschen Parlamentsparteien in eins fallen könnten. Nein, das ist undenkbar! Das liefe auf nichts anderes hinaus als auf puren Nationalismus.

Das Jahr 1914 ist ein Menetekel! „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche“, sagte der Kaiser, und bis auf einige Einzelpersonen machten alle relevanten politischen Kräfte mit. Und warum war die erste der deutschen Kriegserklärungen im August 1914 an Russland gerichtet und nicht an Frankreich? Weil so – Originalton Reichskanzler – die Sozialdemokraten auf die Seite des Kaisers zu ziehen waren.

Zum Schluss

Am Ende noch einmal wie am Anfang: Meine Partei kann sich nicht einfach „neu erfinden“. Meine Partei wird sich nicht „retten“, indem die einen die anderen „besiegen“. Meine Partei muss sich auch nicht von anderen sagen lassen, dass sie jetzt mal „mit den Bürgerinnen und Bürgern“ reden solle. Ich kenne gar keine Genossinnen und Genossen, die das nicht tun. Aber wenn zum Beispiel in einer Versammlung die Alten klagen, dass keine Jungen da sind, und man sie dann nach den eigenen Kindern und Kindeskindern fragt, dann winken sie ab, denn von denen wissen sie natürlich, dass deren Arbeitsprozesse und Lebensbedingungen eine ehrenamtliche, zeitfressende Parteiarbeit überhaupt nicht zulassen und sie auch nicht einfach mal so ein Wochenende auf einem Parteitag zubringen können.

(Ein überaus wichtiges Thema! Gesellschaftliches Engagement können nur Menschen entwickeln, die einen Feierabend und Freizeit haben, und weil das nur noch bei wenigen der Fall ist, haben alle Parteien mit der Nachwuchsfrage zu tun und ihren Verbindungen in die Gesellschaft, und in den Parteien selbst wächst das Gewicht der Hauptamtlichen immer weiter.)

Meine Partei muss geduldig an ihrem Selbstbewusstsein arbeiten. Geduldig. Muss dafür zunächst neugierig und wohlwollend in sich selbst schauen – das heißt, sie darf auch froh darüber sein, wie viele von uns nach Kräften eine gute, anerkennenswerte, hoch zu würdigende Arbeit leisten. Das ist bei 4,9 Prozent nicht anders als bei 5,2 oder 6,7.

Sie könnte aber ruhig hier und da weniger ängstlich mit der Frage des Mitglied-Seins umgehen. Manche Positionen innerhalb der Partei sind wirklich nicht miteinander vereinbar, sie sind auch durch geduldige Debatte nicht miteinander vereinbar zu machen – wer oder was zwingt angesichts dessen zu gemeinsamer Mitgliedschaft? Der Bruch mit dem Stalinismus war doch auch ein Bruch mit einem das Mitglied-Sein heiligenden Parteienverständnis. Eine Partei kann nicht alle Positionen in sich vereinigen. Und darf sich nicht zur Geisel eines ewigen innerparteilichen Kampfes machen lassen. Also Mut zum Ausschluss? Nein, das meine ich nicht. Was ich meine, ist Mut zum Abschied. Ist Ehrlichkeit dahingehend, mit wem ich, wenn ich mit meiner Partei in einen für mich nicht erträglichen Konflikt gerate, meine eigenen Positionen besser in Übereinklang bringen kann.

Bin ich gern in meiner Partei? Ja, das bin ich. Denn von allen denkbaren Parteien ist sie die mir nächste. Mit meinen Büchern und Artikeln, mit meinen Lesungen und meinem Auftreten auf Versammlungen versuche ich sie zu stärken.

Mal seh’n, wie’s wird. Ich bin sehr neugierig. Die Zukunft – das steht fest – liegt vor allem in den Händen der Jüngeren.