Am 28.10.2021 18.00 Uhr trafen sich in den Räumen der Fraktion DIE LINKE im Landtag Brandenburg um die 25 Menschen zum Kunstgespräch über die Gemäldeausstellung "Wo ist Kairos?" des Potsdamer Malers Harald Herzel. Herzel hatte mich eingeladen, das Gespräch zu eröffnen. Hier ist die kleine Rede nachzulesen.

Adolphi 2021: Wo ist Kairos? Gemälde von Harald Herzel

Einführung zum Kunstgespräch mit dem Maler Harald Herzel am 28.10.2021 in den Räumen der Fraktion DIE LINKE im Landtag Brandenburg zur Gemäldeausstellung „Wo ist Kairos?“

Wir wollen die Gelegenheit am Schopfe packen und uns heute mit Harald Herzel über seine Kunst unterhalten.

Welches ist die Gelegenheit? Zum ersten: Ein Zyklus seiner Bilder ist hier ausgestellt. Und zum zweiten: Er selbst ist anwesend. Das macht sie aus, diese Gelegenheit: dieses doppelte Hiersein. Wenn Harald geht, ist sie fort. Und da sie hinten eine Glatze hat, diese Gelegenheit, können wir sie nicht mehr greifen. Deshalb müssen wir sie vorn, am Schopfe, packen, sonst geht sie vorüber, und wir können ihr nur noch hilflos nachblicken.

Das ist Kairos. In der altgriechischen Zeitvorstellung: der rechte Zeitpunkt. Der Moment, wo die Entscheidung gefällt werden muss. Wo alles auf des Messers Schneide steht.

Diese Bilder: „die Gelegenheit am Schopfe packen“ und „etwas auf des Messers Schneide stehen sehen“ – sie stammen aus der künstlerischen Darstellung des Kairos als Gottheit und mytische Figur. Bei Wikipedia findet sich eine Druckermarke von Hans Holbein d. J. für den Baseler Drucker Andreas Cratander von 1522. Dargestellt ist eine junge Frau mit wallender Haarpracht, einem kahlen Hinterkopf, einem Messer in der Hand und Flügelschuhen. Kairos ist immer in Bewegung. Es ist so schwer, den rechten Augenblick zu erkennen und zu nutzen. Immer wieder entzieht er sich, dieser Augenblick, schürt er Hoffnung und macht er sie auch wieder zunichte.

Wo ist Kairos? fragt sich Harald Herzel seit 1989 in Gemälden, von denen 25 hier zu sehen sind.

Wo, wann ist „der richtige Moment“? Wo, wann war er? Und wofür? Wer hat ihn nicht am Schopfe gepackt – und warum? Was stand auf des Messers Schneide? Wo, wann also hätte eine andere Entscheidung einen ganz anderen Verlauf der Geschichte eingeleitet?

Und weiter: Wer hätte wann wie handeln müssen, damit dieser andere Verlauf der Geschichte Wirklichkeit werden kann? Und ist Kairos vielleicht nicht nur ein einziger Moment und Augenblick, sondern eine ganze Kette von Momenten und Augenblicken? Wird aus vielen kleinen Kairos‘ ein großer, ein gesamter, ein übergreifender?

Von all diesen Fragen wird Harald Herzel umgetrieben. Wirklich umgetrieben. Dauerhaft. Nicht nur in diesem und jenem Moment der Muße, nicht nur, wenn er sich an die Staffelei stellt, sondern immer. Der Staffeleimoment ist dann nur noch der Moment des Ausbruchs dessen, was ihn immerfort umtreibt. Und das sieht man seinen Bildern an. Es sind die Bilder eines Umgetriebenen. Der sich selbst keine gedankliche Ruhe gönnt und seinen Betrachterinnen und Betrachtern auch nicht.

Wer zu diesen Betrachterinnen und Betrachtern gehören will, kann dies – da ist Harald Herzel ganz auf der Höhe der Zeit – jederzeit im Internet tun (www.harald-herzel.de). Dort ist alles, was hier ausgestellt ist, zu sehen und kann also noch einmal in Erinnerung gerufen werden.

Und auch hat der Maler dort seinen Bildern einen Text beigegeben, in dem er sich und seine Bilder zu erklären unternimmt. Auch das hat mit der Höhe der Zeit zu tun. Wer künstlerisch tätig ist und nicht zum winzigen Kreis der Allerbekanntesten gehört, muss versuchen, durch diese und jene Form der Eigenwerbung und Selbsterklärung auf sich aufmerksam zu machen, das Interesse der anderen zu gewinnen, und das ist eine gewaltige Aufgabe im täglichen Übermaß an Informationen, Einladungen, Angeboten und Verlockungen.

Harald Herzel greift dabei zu keinerlei Tricks. Seine Texte sind in ihrer klar erkennbaren Zerrissenheit so direkt wie seine Bilder. Herzel fährt keine textlichen Umwege, um zu seinen Bildern zu gelangen, sondern steuert direkt auf sie zu. Hier stehe ich, sagte er, und hier male ich, und was mich umtreibt, ist nicht irgendwas, sondern mein Leben, und das benennt er genau als das in der DDR und der SED und dann in der BRD und der PDS und der LINKEN, und ich kann nicht anders, sagt er, als meine Erschütterungen in diese Bilder zu gießen.

Mit den Texten bietet er freilich auch noch deutlicher Stoff zum Fragen und Diskutieren. Die Verzweiflung und Orientierungslosigkeit, das Schreien nach Hilfe und Solidarität, das Erschrecken vor dem eigenen Absturz: in den Bildern erscheint all das als Allgemein-Menschliches, konkreten gesellschaftlichen Hintergründen sich Enthebendes – mit den Texten jedoch wird es bis ins Schmerzhafteste konkret.

Herzel beschreibt eine der ihn umtreibenden Situationen als „konfrontiert mit den Fehlern des Sozialismus, den wir so nicht gemeint hatten“. Wo war Kairos? Wer ist dieses Wir, das etwas „so nicht gemeint“ hatte? Wer hat welche Fehler gemacht?

Wo war Kairos? Wo ist Kairos?

Harald Herzel erlebt vielfache Verstörung und lässt uns mit vielfacher Verstörung zurück.

Aber Harald Herzel will mit diesen Bildern nicht allein sein. Er betrachtet sie ausdrücklich als seinen Diskussionsbeitrag zu allem, was seine Genossinnen und Genossen programmatisch, strategisch, gesellschaftsanalytisch diskutieren – oder auch von sich wegschieben, um es nicht diskutieren zu müssen! Er ist – um ein Bild von Antonio Gramsci zu verwenden – ein organischer Künstler der Linken. Es gibt solche wie ihn nicht in Überzahl.