Der Krieg in der Ukraine - wann kommt er endlich zu einem Ende? Und wie wird das geschehen? Auf welchem Wege? - Und wie ist er überhaupt entstanden, dieser Krieg? Wer führt ihn? Um welcher Ziele willen? Und was bedeutet er für Deutschland? - Wie verändert sich - so frage ich - das Land, in dem ich lebe? Und wie die Partei DIE LINKE, in der ich - die Vorgängerpartei PDS mitgerechnet - von deren Anfängen 1990 an tätig bin? Sie muss - das ist meine Überzeugung - zu einer Politik finden, die "Krieg dem Kriege" heißt.

Adolphi 2022: Krieg dem Kriege

Wolfram Adolphi/16. Oktober 2022

DIE LINKE und der Frieden: Wo bleibt das „Krieg dem Kriege“?

In der Ukraine ist Krieg, und Deutschland ist darin Partei. Kriegspartei. Nicht mit eigenen Truppen und Kampfhandlungen, aber mit Waffenlieferungen, Wirtschafts- und Energiekrieg, Propagandakrieg. Für die Ukraine und gegen Russland. Dieses Kriegspartei-Sein ist seither Substanz aller Politik des Machtblocks, Substanz aller durch ihn geprägten gesellschaftlichen Entwicklung und aller Debatte darüber. Flucht aus dieser Substanz ist nicht möglich.

Die Alternative – und im doppelt mahnenden Angesicht sowohl der verheerenden, 27 Millionen sowjetische (russische und ukrainische, weißrussische, estnische, lettische, litauische, kasachische, usbekische, armenische, georgische, jüdische und viele andere) Menschenleben fordernden Zerstörung der Sowjetunion durch deutsche Truppen in den Weltkriegsjahren 1941-1943 als auch und vor allem der täglich wachsenden Gefahr der Eskalation des Krieges zum Weltkrieg die einzig sittliche – wäre gewesen, schon vor dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 und erst recht seither alle nur denkbare Kraft für Verhandlungen, Waffenstillstand und Frieden zu mobilisieren, also: Vermittler zu sein statt Partei, um diesen Krieg zwischen zwei damals im Kampf zur Befreiung der Sowjet-union und ganz Europas vom deutschen Faschismus vereinten Völkern zu verhindern.

Aber darüber hat es nie eine öffentliche Beratung gegeben. Die Entscheidung ist ohne Befragung der Bevölkerung getroffen worden. Und auch DIE LINKE, die sich in ihrem wichtigsten, eigentlich der Selbstvergewisserung dienenden Gedenkritual alljährlich im Januar an den Gräbern von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht – den von der Konterrevolution am 15. Januar 1919 ermordeten Lichtgestalten der „Krieg dem Kriege“-Position – versammelt, hat sich in tragischer Ausschlagung dieses Erbes nicht dafür ent-schieden, für die genannte Alternative zu kämpfen, sondern stattdessen mit dem Kriegspartei-Sein des Machtblocks verbunden.

Damit hat sie sich in die Gefangenschaft aller mit diesem Kriegspartei-Sein verbundenen ideologischen Konstruktionen einschließlich des Geschichts- und Zukunftsbildes des Machtblocks begeben, und sie wird von einem großen Teil der mit der Entwicklung Unzufriedenen und durch sie zutiefst Verunsicherten auch genau auf diese Weise wahrgenommen: als Teil des Herrschaftssystems – und nicht als eine das Ganze in Frage stellende, also „Krieg dem Kriege“ fordernde sozialistische Opposition.

Eines der klarsten Signale ihres Gefangenseins hat die LINKE-Führung mit der schon kurz nach dem Überfall am 24.02.2022 getroffenen Entscheidung ausgesandt, den Vorsitzenden ihres Ältestenrates Hans Modrow – DDR-Ministerpräsident in den dramatischen Übergangsmonaten von November 1989 bis März 1990 und im vereinten Deutschland Mitglied des Bundestages und des Europäischen Parlaments – wegen seiner Überlegungen über die Bedeutung der Vorgeschichte des Überfalls an den Pranger zu stellen. Sie düpierte damit einen Mann, der mit seinen mehr als neunzig Lebensjahren über jahrzehntelange einzigartige Erfahrungen im Ringen um Entspannung in Europa und in der Welt verfügt und dafür weltweite Anerkennung genießt, und sie vergab jede Möglichkeit, sein Wissen und Ansehen für eine gemeinsame Stärkung der kritischen Öffentlichkeit zu nutzen.

Will DIE LINKE heraus aus ihrer Gefangenschaft? Und eine das Ganze in Frage stellende Opposition sein? Es gibt darüber keine Verständigung. Der in Landtagswahlergeb-nissen und landes- und bundesweiten Umfragen sich ausweisende Niedergang der Partei hat bisher nicht zu einer wie auch immer gearteten Klärung ihres Kurses geführt. Die Protagonistinnen und Protagonisten der Parteinahme bleiben bei ihrer Überzeugung, dass die Ursache für den Niedergang bei denjenigen liegt, die die „Krieg dem Kriege“-Position vertreten, und umgekehrt ist es ebenso.

Wird es also überhaupt eine Verständigung geben können? Das ist völlig offen. Ein mächtiges äußeres Hindernis dafür ist die Wucht der Politik und Propaganda des Machtblocks und Meinungs-Mainstreams, in die ein ständiger Druck auf DIE LINKE eingeschlossen ist, sich in ihrem oppositionellen Protestverhalten nicht an eigenen Ansichten und Überzeugungen zu orientieren, sondern daran, was eben dieser Machtblock für richtig hält. Und es gibt auch ein mächtiges inneres: Das ist das Nie-Geklärte, immer wieder Aufgeschobene in der Frage nach dem Selbstbild der Partei. Dieses Nie-Geklärte fordert nun, in der zugespitzten Krise, mit Macht seinen Tribut.

„Krieg dem Kriege“: Eine Erinnerung

Die Zeit, in der wir leben, erinnert in der Art des Aufeinanderprallens verschiedener imperialer Großmachtinteressen sehr deutlich an 1913/14, die Zeit also vor dem Ersten Weltkrieg. Viele Entwicklungen in verschiedenen Teilen der Erde drängten damals auf einen Weltkrieg hin, und die internationale Arbeiterbewegung, die sich in ihrer Blütezeit be-fand, war sich im Angesicht all dessen einig in der Forderung, sich einer je nationalen Parteinahme zu entziehen, dem Nationalismus zu widerstehen und unter der Losung „Krieg dem Kriege“ den Krieg selbst zu bekämpfen – und nicht an der Seite ihrer „nationalen“ Machtblöcke die Arbeitenden der anderen Länder.

Dieses Konzept brach, als der Krieg Anfang August 1914 tatsächlich begann, schnell in sich zusammen. Fundamentale nationale Bindungen, leicht entflammbarer Patriotismus und absichtsvoll geschürter Nationalismus waren ungleich stärker als der im Frieden verkündete – und dort auch lebbare – proletarische Internationalismus. Nur eine kleine Gruppe internationalistischer Parteiführerinnen und Parteiführer beharrte auf dem „Krieg-dem-Kriege“-Standpunkt – Liebknecht, Luxemburg und Lenin darunter herausragend –, nur vereinzelte soziale Bewegungen in der westlichen Welt wandten sich in diesem Sinne gegen den Krieg.

In Russland jedoch wurde der Krieg zum Revolutionsauslöser, und eines der ersten Signale, die diese Revolution in die Welt sandte, war im November 1917 – der Krieg war noch in vollem Gange – Lenins „Dekret über den Frieden“. In seiner Folge kam es an der Ostfront zu russisch-deutschen Soldatenverbrüderungen, und auch in Deutschland er-wuchs im November 1918 aus den Schrecken des Krieges eine Revolution.

Das war zu Kriegsbeginn 1914 nicht abzusehen gewesen. Da hatte Kaiser Wilhelm II. „sein Volk“ mit der Formel, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur Deutsche, „auf Linie“ gebracht, und das Wort von den „vaterlandslosen Gesellen“ tat für die Verunglimpfung und Verfolgung der Friedenskämpferinnen und Friedenskämpfer ein Übriges.

Nun, da die Revolution ausgebrochen war, machte der reaktionäre Machtblock, der den Waffenstillstand vom 11. November 1918 zum verräterischen „Dolchstoß“ erklärte und im Osten mit „Freikorps“ den von Eroberungsplänen getragenen Krieg noch über das Weltkriegsende hinaus bis Ende 1919 weiterführte, die Friedenskräfte zum Hauptziel seines innenpolitischen Terrors. Am 15. Januar 1919 ließ er Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermorden, am 21. Februar 1919 den revolutionären bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner. Am 8. Oktober 1919 – die Revolution war längst erstickt – wurde der Kriegsgegner und USPD-Vorsitzende Hugo Haase Opfer eines Attentats, dem er am 7. November 1919 erlag, und weil auch bürgerliche Friedensbestrebungen nicht ins Konzept der reaktionären Kräfte passten, wurden am 26. August 1921 Matthias Erzberger und am 24. Juni 1922 Walther Rathenau umgebracht.

Dieser Terror fand auf neuer Stufe seine Fortsetzung, als auch die Faschisten bei ihrem Aufstieg als erstes die Friedenskräfte ins Visier ihres mörderischen Vorgehens nahmen. Indem die NSDAP schon gleich, nachdem ihr am 30. Januar 1933 die Macht übergeben worden war, mit hunderte Todesopfer fordernder Gewalt gegen die KPD vorging und sie damit aus den Reichstagswahlen am 5. März 1933 ausschaltete, demon-strierte sie brutal ihre Entschlossenheit, diejenigen, auf deren Plakaten die klarsichtige Warnung „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler! Wer Hitler wählt, wählt Krieg!“ gestanden hatte, und alle anderen Gegnerinnen und Gegner des längst von ihr wie auch von bedeu-tenden Teilen des Militärs und der Wirtschaft beschlossenen Kriegskurses erbarmungslos zu verfolgen. Rosa Luxemburgs aus der Analyse der Kriegsursachen, des Kriegsverlaufs und der apokalyptischen Kriegsschrecken erwachsene Mahnung, wonach die Gesellschaft vor der Entscheidung „Sozialismus oder Barbarei“ stehe, hatte sich mit dem Sieg der Barbarei als erschreckend zutreffend erwiesen.

Nach der Befreiung der Welt von der deutsch-japanischen faschistisch-militaristischen Kriegsachse 1945 entwickelte sich eine Blockkonfrontation zweier gegensätzlicher, von den USA auf der einen und von der Sowjetunion auf der anderen Seite geführter gesellschaftlicher Lager, die auch die beiden nach dem Krieg von den Siegermächten gebildeten deutschen Staaten einschloss. Es liegt auf der Hand, dass in dieser Zeit der auf Kapitalismus hier und Sozialismus da gegründeten Zweistaatlichkeit auch die Krieg-Frieden-Frage auf gegensätzliche Weise betrachtet wurde, und zwar in mehrfachem Sinne: Da war zum einen die fundamentale, mit mächtigen militärischen Apparaten und entsprechenden Feindbildern befestigte Gegnerschaft der Staaten, und da waren zugleich in beiden Staaten Friedensbewegungen, die sich der Konfrontation der Staaten entgegengestellten, sie aufzulösen versuchten. „Krieg dem Kriege“ paarte sich mit „Schwerter zu Pflugscharen“.

DIE LINKE von heute hat entsprechend vielfältige und auch widersprüchliche Wurzeln. Sie hat sie zum einen über ihr Erbe aus der SED in der Friedens- und Entspannungspolitik, wie sie von der DDR als Staat betrieben worden ist und in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 wie auch in vielen zwischenstaatlichen Beziehungen der DDR mit westlichen Staaten ihren friedenssichernden Niederschlag gefunden hat; dann in der von „Schwerter zu Pflugscharen“ getragenen DDR-Opposition, die die offizielle DDR-Politik als nicht friedenssichernd empfand, weil sie unverändert auf gegenseitige Abschreckung der Blöcke baute; weiter in der westdeutschen Friedensbewegung; und schließlich in den bei den Bevölkerungen in Ost und West gleichermaßen auf starken Widerhall stoßenden einseitigen Abrüstungsschritten Michail Gorbatschows in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, die am Ende zur Selbstauflösung der Sowjetunion und des Warschauer Vertrages und damit der Blockkonfrontation führte. Sich nie darüber verständigt zu haben, was all das für die jetzt notwendige Friedenspolitik bedeutet, gehört zu den Versäumnissen, die der Krieg nachdrücklich ins Bewusstsein reißt.

„Krieg dem Kriege“: Für Frieden – und für Zukunft überhaupt

Es sind heute die gleichen Fragen wie 1913/14 gestellt: Mit welcher Form, welchem Charakter des Krieges haben wir es zu tun? Welche Mächte sind seine Akteure? Welche imperialen Großmachtinteressen dominieren das Geschehen, und welche mittleren und kleinen Staaten beeinflussen es mit ihren eigenen Interessen bzw. jenen, die sie stellvertretend für andere durchzusetzen versuchen?

Und heute wie damals sind für die Beantwortung dieser Fragen die Bestimmung des Kriegsbeginns und die Entschlüsselung seiner Vorgeschichte von alles entscheidender Bedeutung. Die Regierung der Ukraine und die an ihrer Seite stehenden Herrschaftsorganisationen NATO und EU einschließlich des Machtblocks in Deutschland geben auf diese Frage die Antwort: Der Krieg begann am 24. Februar 2022 mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Zur Befestigung dieser Auffassung versehen sie den Überfall mit verschiedenen, bei anderen Kriegen der vergangenen dreißig Jahre nicht verwen-deten Attributen, darunter mit dem, dass er „durch nichts zu rechtfertigen“ sei. Damit wird allem Fragen nach der Vorgeschichte und allem vergleichenden Einordnen eine vorauseilende Absage erteilt. Zudem erscheint der Krieg in dieser Lesart unumstößlich als Überfall eines übermächtigen Großen auf einen hoffnungslos unterlegenen Kleinen, womit es keinen Zweifel mehr daran geben kann, dass die Ukraine einen „gerechten Krieg“ führt.

Wird jedoch im Gegensatz zu dieser Lesart die Vorgeschichte in den Blick genommen – also mindestens die Zeit seit Ende Februar 2014 mit dem Sturz der Regierung in Kiew, dem damit verbundenen Politikwechsel hin zu einem aggressiv antirussischen Kurs, der russischen Annexion der Krim, der Abspaltung der „Volksrepubliken“ und dem militärischen Vorgehen Kiews gegen die dortige Bevölkerung, aber darüber hinaus auch auf die Zeit ab 1990, als der Zerfall der Sowjetunion seinen Anfang nahm –, dann ändert sich alles. Dann tritt der vielschichtige Charakter des Krieges deutlich hervor, zeigen sich seine historisch bedingten innenpolitischen und ethnischen Komponenten ebenso wie seine geopolitischen Dimensionen, entschlüsseln sich die Interessen sowohl der Herrschenden in den USA, der NATO, der EU und der Ukraine als auch derer in Russland. Der Krieg tritt dann deutlich als Krieg zwischen imperialistischen Staaten hervor, der auf dem Territorium der Ukraine ausgetragen wird, die Bevölkerung der Ukraine zum Hauptopfer hat und in dem die Herrschaftsgruppierung der Ukraine die Rolle eines mit eigenen nationa-listischen Interessen ausgerüsteten Sachwalters der USA spielt.

Dies alles in Betracht zu ziehen, ist deshalb von buchstäblich lebenswichtiger Bedeutung, weil es eine entscheidende Voraussetzung dafür darstellt, dass es überhaupt zu Verhandlungen und zur Wiederherstellung des Friedens kommen kann. Erst, wenn die jeweiligen Interessenlagen in den Blick und gegenseitig zur Kenntnis genommen werden und das Handeln aller beteiligten Seiten seit dem Februar 2014 zur Sprache gebracht werden kann, wird es tatsächlich Verhandlungen geben können – also Gespräche, die über die gegenseitige Schuldzuweisung hinausgehen. Darum ist die Frage nach dem Kriegsbeginn von so großer Bedeutung. Wer nur die Zeit seit dem 24. Februar 2022 ins Auge fasst und besprechen will, blendet die von der UNO bestätigten mindestens 15.000 Todesopfer des vorherigen militärischen Vorgehens der Regierung in Kiew gegen die abtrünnigen östlichen Landesteile ebenso aus wie viele weitere wichtige Aspekte der Vorgeschichte – und legt damit dem für einen Friedensschluss unabdingbaren Aufein-ander-zu-Gehen der beteiligten Seiten ein unübersteigbares Hindernis in den Weg.

Die „Krieg dem Kriege“-Position hingegen will diese Verhandlungen, will die Herbeiführung des Friedens durch genau sie und nicht „auf dem Schlachtfeld“ – einem Raum, das in diesem Krieg territorial gar nicht eindeutig dargestellt werden kann, sondern Synonym ist für den ständig sich verändernden Ort unmittelbarer Kampfhandlungen von Truppen ebenso wie für die über riesige Entfernungen steuerbaren Raketenschläge, Bombardierungen, Drohnenangriffe, Sabotageakte und weitere Kriegshandlungen.

Die „Krieg dem Kriege“-Position ist darüber hinaus Voraussetzung für die Schaffung von Zukunft überhaupt. Der Krieg ist nicht „nur“ der konkrete bewaffnete Konflikt mit seiner großen Zahl an Getöteten, Verletzten, um ihr Hab und Gut Gebrachten und den Zerstörungen in Wirtschaft, Landwirtschaft, Infrastruktur und Umwelt, sondern auch ein ungeheurer Rückschlag im so dringenden Kampf für eine weltweit gemeinsame Lösung der globalen Probleme wie Klimawandel, Ressourcenknappheit, Armut und Hunger.

Da die Parteinahme, wie wir sie gegenwärtig erleben, den Krieg nachweislich nicht verkürzt, sondern verlängert – in den USA wird die Kriegsdauer betreffend bereits von mehreren Jahren gesprochen –, steht sie der Lösung dieser globalen Probleme entgegen. Die „Krieg dem Kriege“-Position und die Parteinahme stehen sich somit auch im globalen Rahmen in scharfem Gegensatz gegenüber. Die Hintanstellung der globalen Probleme ist einer der Gründe dafür, dass sich Länder wie China, Indien, Südafrika und andere vornehmlich zur südlichen Hemisphäre gehörende Staaten bei der Abstimmung über die Russland verurteilende UNO-Resolution vom 12. Oktober 2022 der Stimme enthalten haben.

Das „Zeitenwende“-Diktum: Freibrief für Radikalumbau ins Ungewisse

Die Verhältnisse im Inneren Deutschlands betreffend ist die „Krieg dem Kriege“-Position die Voraussetzung für einen eigenständigen analytischen Blick dafür, was sich im Ergeb-nis des Kriegspartei-Seins an Veränderungen vollzieht.

Der russische Überfall – so hat der westliche Machtblock erklärt – stelle eine „Zeitenwende“ dar, und er hat es nicht einfach nur bei dieser Erklärung belassen, sondern diese „Zeitenwende“ durch seine nachfolgende Politik auch tatsächlich gemacht: zu einer Wende weg von der durch Handel und Wandel getragenen Entspannungspolitik hin zu einer rigorosen, kaum noch ein Risiko scheuenden, die Gesellschaft komplex verändern-den Blockkonfrontation.

So ist dieser „Zeitenwende“-Begriff selbstverständlich interessengeleitet und beschreibt keineswegs etwas „Objektives“, irgendwie „von oben“ Gekommenes. Das wird schnell deutlich, wenn andere Ereignisse in Betracht gezogen werden, die trotz ihres welthistorischen Gewichts nicht mit diesem Prädikat bedacht worden sind. Zum Beispiel der Irakkrieg 1991, mit dem die USA auf die tatsächliche Zeitenwende des kampflosen Verschwindens der Sowjetunion und ihres Staatenbundes von der Weltbühne und das damit verbundene kurzzeitige Aufscheinen der Hoffnung auf eine Welt ohne Krieg reagierten. Oder der Jugoslawienkrieg der NATO in den 1990er Jahren. Oder der von den USA geführte Irakkrieg 2003. Oder der 2001 als „Krieg gegen den Terror“ apostrophierte Krieg der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan, der beim Abzug der Truppen 2021 das Land, dem man doch Frieden und Demokratie zu bringen versprochen hatte, in Chaos und Armut zurückließ. Nie war da von „Zeitenwende“ die Rede. Und auch nicht bei den „vergessenen“ Kriegen im Jemen, in Syrien, in Mali und in den türkisch-syrisch-irakischen Regionen der Kurdinnen und Kurden.

„Zeitenwende“ in der jetzt auf uns gekommenen Lesart ist also nicht Krieg im Allgemeinen, sondern nur dieser: der von Russland geführte.

In Deutschland hat die „Zeitenwende“ seit dem 27. Februar 2022, da Bundeskanzler Olaf Scholz das Wort stracks mit einem 100-Milliarden-Programm für Aufrüstung verband, das gesamte gesellschaftliche Leben verändert. Sie ist zu Wirtschafts-, Kriegs- und Außenpolitik geworden; aber auch zu Innen-, Sozial-, Kultur-, Bildungs- und Geschichtspolitik; und selbstverständlich zu Informationspolitik. Und damit noch längst nicht genug. Denn mit Rasanz bemächtigt sich der „Zeitgeist“ dieser Wende, macht er sie zu seiner eigenen, spaltet er die Gesellschaft in „dafür“ und „dagegen“ nach Maßstäben, die gestern noch ganz andere oder völlig unbekannt waren.

Das Fundamentale dieser Wende „dem Volk“ fassbar zu machen, genügen dem westlichen Machtblock zwei Worte: „Putin“ und „wir“. Mehr braucht es nicht, denn alles ist darin zusammengepackt und in der Extremgeschwindigkeit und Superreichweite der modernen Medien als Gegensatzpaar in die Köpfe getrommelt: „Putin“ = Aggression = völkerrechtswidrig = barbarisch = räuberisch = Autokratie = neuer Zar = hat angefangen = darf nicht siegen = will nicht verhandeln = bedroht uns alle = muss weg. Und im Gegensatz dazu „wir“ = aus heiterem Himmel vom Krieg überrascht = Demokratie = Menschenrechte = nichts als beste Absichten = bedroht = regelbasiert = opferbereit = mit Wirtschaftskrieg überzogen = zur Zeitenwende gezwungen.

Das ist manichäisch in reinster Form. Es gibt nur noch schwarz und weiß, nur noch „Gut“ und „Böse“. Keine Grautöne mehr. Und alles wird passend gemacht: Menschen, die völlig zu Recht und mit tausend guten Gründen bis gestern noch allem Nationalen skeptisch gegenübertraten und sowieso allem Nationalistischen und Völkischen den Kampf ansagten, bejubeln jetzt „das ukrainische Volk“. Was das ist; wer dazugehört und wer nicht; wer im Staat Ukraine herrscht und wer nicht; was mit den Minderheiten ist und der politischen Opposition; wie es um die sprachliche und kulturelle Vielfalt bestellt ist und um das Geschichtsbild und die Meinungsfreiheit – das alles ist jetzt egal. Es ist Krieg, die Ukraine ist das Opfer der russischen Aggression, da ist alle Vorgeschichte vergessen, auch alle vorher getroffenen Bewertungen der gesellschaftlichen Entwicklung sind es, es spielt nur noch eines eine Rolle: der Sieg über den Feind.

Dabei werden Aufgaben, die eben noch als zentral und unaufschiebbar galten wie etwa der Kampf gegen Hunger und Armut oder den Klimawandel und seine Folgen oder gegen die noch lange nicht überwundene Covid-Pandemie oder gegen die weltweite Ressourcenverknappung in eine unbestimmte Zukunft verschoben – ganz so, als gäbe es plötzlich dafür noch unendlich viel Zeit.

Und auch andere Grundsätze, die gerade noch als „ewig“ galten, erweisen sich plötzlich als brüchig und austauschbar. So zum Beispiel die Notwendigkeit, anstehende politische Entscheidungen auf der Grundlage möglichst allseitiger Informationen in einem geordneten demokratischen Verfahren ausführlich vorzubereiten. Nichts davon ist im Falle der „Zeitenwende“-Erklärung und der folgenden Entscheidungen über die Rüstungsmilliarden, die Wirtschaftssanktionen und die Waffenlieferungen ins Kriegsgebiet geschehen.

Begründet wurde dieses Vorgehen – wenn es denn überhaupt einmal ernsthaft hinterfragt worden ist – damit, dass man von der russischen Aggression komplett überrascht worden sei und darum keine Zeit für demokratische Normalität gehabt habe. Das ist nicht glaubwürdig. Zum einen, weil der russische Machtblock seine Truppen wochenlang an der Grenze zusammengezogen hatte und es undenkbar ist, dass die Machtblöcke der NATO und Deutschlands daraus und aus den begleitenden Erklärungen des russi-schen Präsidenten Wladimir Putin nicht ihre Schlüsse gezogen haben sollten. Und zum anderen, weil sich die Grünen-Spitzen Annalena Baerbock und Robert Habeck schon im Bundestagswahlkampf 2021 bei ihren Besuchen in der Ukraine zielbewusst ins Kampf-gebiet nahe der separatistischen „Volksrepubliken“ begeben und dort mit Stahlhelm und Schutzweste posiert haben, was ja doch deutlich über eine rein politische Solidaritätserklärung hinausging und sie im Übrigen auch in ihrer Auffassung Lügen straft, die Vorgeschichte der Aggression vom 24. Februar dürfe bei der Beurteilung des Kriegsgeschehens keine Rolle spielen.

Parteinahme und neue Blockkonfrontation

Die Parteinahme Deutschlands im Krieg bedeutet zugleich Parteinahme in der neuen globalen Blockkonfrontation, und so ist es auch mit der Gefangenschaft der LINKEN in dieser Parteinahme. Auch sie reicht über den Krieg hinaus in die neue globale Blockbildung.

Diese Blockbildung hat wie der Krieg selbst nicht erst mit dem russischen Überfall am 24. Februar begonnen, sondern ist wesentlicher Teil seiner Vorgeschichte. Russland hat seine Positionen auf der Krim und in den „Volksrepubliken“ verstärkt, um nicht vom Schwarzen Meer und damit dem für seine im Selbstbild als unverrückbar geltende Weltmachtrolle unabdingbaren Zugang zu den Weltmeeren abgeschnitten zu werden, und gleichzeitig haben die USA und die NATO die Ukraine militärisch aufgerüstet und politisch zum Vorposten einer neuen Stufe der Osterweiterung der Europäischen Union und der NATO aufgebaut, und diese wiederum zielt – wie seitens der USA in ihrer im Selbstbild ebenfalls als unverrückbar geltenden Weltmachrolle offen ausgesprochen wird – noch über Russland hinaus, nämlich auf China.

Vor diesem Hintergrund erhält die Schnelligkeit ihre Bedeutung, mit der der Deutsche Bundestag am 27. Februar das 100-Mrd.-Euro-Aufrüstungsprogramm auf den Weg brachte, Wirtschaftssanktionen gegen Russland ergriff und die Ukraine der unein-geschränkten Solidarität Deutschlands versicherte. Es sollte keinen Verzug geben, die Bundesrepublik wollte keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit lassen, den USA willig zu folgen und in der NATO „Bündnistreue“ zu demonstrieren. Schon am 25 Februar hatten ja die EU-Außenminister in Brüssel Sanktionen gegen Russland beschlossen, und deren Ausmaß hatte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock mit den Worten beschrieben, dass sie „Russland ruinieren“ würden. Und ebenfalls ganz schnell – und damit an aller gesellschaftlicher Debatte vorbei – machte Baerbock den Krieg zu „unserem“, indem sie am 1. März 2022 auf der UN-Vollversammlung Deutschlands Bereitschaft zur militärischen Unterstützung der Ukraine auch damit begründete, dass „die Sicherheit Europas“ und „die Charta der Vereinten Nationen“ auf dem Spiel stünden.

Mit all dem hat Deutschland erstens sein Kriegspartei-Sein befestigt, zweitens sich aller Möglichkeiten beraubt, im Krieg eine Vermittlerrolle einzunehmen, und drittens einen erheblichen Beitrag zur Zementierung der neuen Blockkonfrontation geleistet.

DIE LINKE auf „Krieg dem Kriege“ nicht vorbereitet

Indem DIE LINKE sich nicht für „Krieg dem Kriege“ entschieden und stattdessen sich in die Gefangenschaft der Parteinahme begeben hat, ist einem beachtlichen Teil der Menschen in Deutschland für den demokratisch legitimen, ja für die Demokratie selbst lebenswichtigen Widerspruch zum Handeln des Machtblocks ein entscheidender parteipolitischer Partner verlorengegangen. Der Machtblock selbst hat diese Entwicklung durch seine Mischung aus Diskreditierung und Reglementierung der linken Opposition nach Kräften befördert. Der frei gewordene gesellschaftliche Raum wird – wie seit langem absehbar – nun vor allem von der AfD und den mit ihr verbundenen Ausdrucksformen der Kritik, des Widerspruchs und des Protestes ausgefüllt.

Eine „Krieg dem Kriege“-Position einzunehmen hätte jedoch zur Voraussetzung gehabt, dass es eine selbstbewusste LINKE gibt. Aber gerade am Selbstbewusstsein – an einem Identität stiftenden, die Mitglieder der Partei untereinander und mit ihren Anhängerinnen und Anhängern zuverlässig verbindenden weltanschaulich begründeten Bewusstsein ihrer selbst – mangelt es schon sehr lange.

Genauer gesagt: Schon seit den Anfängen 1989/90. Schon da, als aus der SED heraus die PDS gegründet wurde, hat dieser Mangel seinen Ausgangspunkt. Damals wurde der richtige Beschluss gefasst, „unwiderruflich“ mit „dem Stalinismus als System“ zu brechen, aber dann in der Schnelligkeit des gesamtgesellschaftlichen Umbruchs das sprichwört-liche Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Jeder Form des Parteilehrjahres – mithin der gemeinsamen, die Parteiidentität festigenden Bildungsarbeit – wurde eine Absage erteilt, und der Anspruch, eine auf den Marxismus gegründete gemeinsame Weltanschauung zu entwickeln, wurde durch das Bekenntnis zu einem nicht näher bestimmten, auf weithin beliebige Quellen sich stützenden Meinungspluralismus ersetzt.

Dies aufzuschreiben hat hier nicht das Ziel, einzelne dafür Verantwortliche namhaft machen oder Gräben aufreißen zu wollen. Worum es vielmehr geht, ist, Antworten zu finden auf die Frage danach, wie es zum Ist-Zustand kommen konnte, in dem DIE LINKE so rasant an Zustimmung und Bedeutung verliert, obwohl doch alle Akteurinnen und Akteure mit ihren je unterschiedlichen Überzeugungen glauben, alles zu tun, damit dieser Bedeutungsverlust aufgehalten wird.

Der Verzicht auf eine gemeinsame Weltanschauung spiegelt sich zentral in der Überzeugung, dass der Klassenkampf etwas Überlebtes oder zumindest doch stark Abgeschwächtes sei und an seine Stelle andere gesellschaftliche Verhältnisse und neue Formen der Konfliktaustragung getreten seien. Dies ergänzend hat die Idee an Boden gewonnen, die NATO habe sich verändert, sei nicht mehr die von früher, müsse daher auch von links anders beurteilt werden. Von der Idee, es gebe ein gemeinsames, auf gleiche oder ähnliche, sich jedenfalls nicht antagonistisch gegenüberstehende Interessen gegründetes demokratisch verfasstes gesellschaftliches „Wir“, war es dann nur ein kleiner Schritt, den Eintritt in Regierungskoalitionen auf Länderebene nicht nur mit den dabei üblichen Kompromissen in den konkreten Regierungsvorhaben zu bezahlen, sondern darüber hinaus auch mit Verbeugungen vor einem scheinbar „objektiven“ Gesellschafts- und Geschichtsbild, in dem die marxistische Weltanschauung und ein konstruktiver Bezug auf vierzig Jahre DDR und deren Platz in der europäischen und Weltgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich bis zur Unkenntlichkeit verschwanden.

Der in diesem Handeln erkennbare Mangel an Selbstbewusstsein hat mit den Jahren immer fatalere Wirkungen gezeitigt. Wurde die Partei im Kampf gegen die Agenda 2010 und gegen Hartz IV in der Gesellschaft noch als Stimme des entschiedenen Protests wahrgenommen und damit von den Wählerinnen und Wählern auch als Bezugsort für ihre je individuellen Sorgen und Anliegen gewürdigt und entsprechend mit Stimmen bedacht, so ist das nach mehreren Regierungsbeteiligungen, in denen – anders als noch im Wahlkampf versprochen – für die Betroffenen sehr oft keine Verbesserungen erreicht werden konnten, heute kaum noch der Fall. In der Friedenspolitik verhält es sich so ähnlich: War die Partei im Jugoslawienkrieg 1999 und im als „Krieg gegen den Terror“ apostrophierten Afghanistankrieg 2001 noch klar als Antikriegspartei erkennbar, verschwindet sie heute in einem allgemeinen, vom US-Präsidenten über die NATO, die EU und die Bundesregierung bis tatsächlich in die LINKE-Führung hineinreichenden „Wir“ des Partei-Seins mit der Führung der Ukraine und in dem zur Begründung der neuen Blockkonfrontation durch den Machtblock geltend gemachten Gegensatzpaar Demo-kratie hier und Autokratie da.

Aber die Schwächung ihrer Oppositionsrolle ist natürlich nicht das Resultat der Politik der LINKEN allein. Vielmehr hat sie entscheidend damit zu tun, dass sich die Parteienlandschaft insgesamt veränderte, und zwar in Richtung einer zunehmenden Verunkla-rung. Wenn SPD und Grüne regieren, werden die Klassenwidersprüche tatsächlich stärker als zuvor verschleiert; und in der Merkel-Ära sind die Unterschiede zwischen CDU und SPD bekanntlich oft nicht mehr erkennbar gewesen. Sich unter diesen Bedingungen als linke Opposition zu behaupten, erfordert die Bereitschaft zu umfassender eigenständiger Analyse der Verhältnisse, gründlicher Prüfung alles bisherigen Handelns, geduldiger Auseinandersetzung mit den unübersehbaren innerparteilichen Widersprüchen und zu einer darauf aufbauenden Entwicklung von Strategie und Taktik.

Dabei greift es zu kurz, wenn die Frage des Selbstbewusstsein nur als eine der „inneren“ Verfasstheit der Partei betrachtet wird. Selbstbewusstsein ist vielmehr eine verfassungsrechtlich verankerte Pflicht. Das Grundgesetz verlangt von den Parteien Mitwirkung an der öffentlichen Meinungsbildung – und also eine je eigene, auf eigene Erfahrungen, eigene Weltanschauung und eigenen Zugang zur vielfältig gestalteten und widerspruchsvoll denkenden und handelnden Bevölkerung gegründete Schaffung der Voraussetzungen für diese Mitwirkung. Das Grundgesetzt spricht nicht davon, dass es Parteien gäbe, die sich von anderen Parteien vorschreiben lassen müssten, wie ihre Mitwirkung denn auszusehen habe. Das gilt selbstverständlich auch in der zentralen Frage von Krieg und Frieden.

Die Sozialismusfrage

Auf der Suche nach Weichenstellungen in Richtung der heutigen Lage der LINKEN spielt neben der Gründungsphase 1989/90 auch die Zeit von 2005 bis 2007 eine besondere Rolle. Damals war die PDS im Osten fundamental gescheitert – bei den Bundestagswahlen 2002 hatte sie ganze 4,1 Prozent erreicht –, aber im Westen hatte sich unter dem Eindruck der Agenda-2010-Politik der rot-grünen Bundesregierung die WASG gebildet, und damit gewann nicht nur die gesellschaftliche Linke im Westen neue Stärke, sondern es wurde auch die Schwäche der PDS überwunden. Beide Parteien einigten sich 2005 auf eine gemeinsame Liste bei der Bundestagswahl, in deren Ergebnis eine gemeinsame Linksfraktion entstand, und vereinigten sich 2007 zur Partei DIE LINKE.

Das war ein bedeutsamer Erfolg, der sich bei den Bundestagswahlen 2009 und – mit Abstrichen – auch 2013 sowie bei zahlreichen Landtagswahlen in dieser Zeit auszahlte, jedoch zugleich zwei große strategische Probleme in sich trug: Aus dem Parteinamen war der Sozialismus verschwunden, und aus dem Blick und Handeln der Partei verschwand immer mehr auch die DDR.

Das sind beides keine Randfragen. „Sozialismus“ im Parteinamen markiert eine gesellschaftliche Zielstellung wie auch eine fundamental antikapitalistische Bewegungsform, besteht daher auf einer unbedingt kritischen Infragestellung allen bürgerlichen Regierungshandelns und auch aller bürgerlichen Ideologie und Propaganda, und er bezieht sich programmatisch und in bewusster, Selbstkritik einschließender Bildungsanstrengung auf das reiche Erbe all dessen, was Sozialismus schon war und sein wollte. „Links“ hingegen war einfach nur der allerkleinste gemeinsame Nenner, unter dem sich die sehr unterschiedlichen Parteien PDS und WASG zu einigen vermochten. Das Problem ist nicht, dass es damals so geschah; das Problem ist, dass die Parteimehrheiten dabei stehen geblieben sind und auf die produktive Rückholung des Sozialismusbegriffs selbst dann verzichtet haben, als Bernie Sanders in den USA unter der Losung des Democratic Socialism seinen Wahlkampf gestaltete.

Heute, da die Friedensfrage auf so dramatische Weise in den Mittelpunkt aller gesellschaftlichen Entwicklung gerückt ist, macht sich das Diffuse des „Links“-Verständnisses besonders drastisch bemerkbar. Der Machtblock vermittelt der Gesellschaft derzeit außer der Ankündigung, Russland zu zerschlagen, eine mit Hochrüstung verbundene neue Blockkonfrontation zu betreiben und dafür der Bevölkerung noch nicht absehbare Opfer abzuverlangen, wenig Ziel und Perspektive. DIE LINKE vermag die entstandene Lücke nicht auszufüllen.

Die Frage nach der DDR und Ostdeutschland

Und auch nicht auszufüllen vermag sie die Lücke im Umgang mit dem Bild von der DDR und der Lage in Ostdeutschland.

Der Machtblock gibt sich erstaunt darüber, dass die Bevölkerung im Osten eine deutlich weniger bellizistische Haltung gegenüber Russland einnimmt als die des Westens. Dieses Erstaunen ist Ausdruck jenes antisozialistischen Unwillens, sich ernsthaft oder gar produktiv mit der Geschichte der DDR und ihrem Fortwirken in Ostdeutschland auseinanderzusetzen, der für die westdeutsche Siegermentalität schon immer prägend ist. Schon immer wird in dieser Mentalität nach dem Motto verfahren, zunächst ein nicht der Vielfalt und Komplexität der historischen Wahrheit, sondern ausschließlich der eigenen Machterhaltung verpflichtetes DDR-Bild zu zeichnen und dann diesem Bild bedingungslos zu glauben und entsprechend zu handeln.

So auch im Falle des Russlandbildes. Der eigenen Vorstellung davon glaubend, wie sehr die DDR-Bevölkerung die Besatzungsmacht Sowjetunion doch gehasst haben müsste, geht dem Machtblock jedes Verständnis dafür ab, welche tatsächlichen Be-ziehungen DDR-Sowjetunion auf buchstäblich allen gesellschaftlichen Ebenen existiert haben und welche tiefen Spuren sie im Bewusstsein der Menschen hinterlassen haben. Millionen persönliche Kontakte und Freundschaften, engste wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen, Hunderte bestens besuchte sowjetische Theaterstücke, Millionen sowjetische Bücher, ungezählte Alltagsbeziehungen durch die Hilfe sowjetischer Garnisonen bei der Getreide- und Kartoffelernte oder der Bewältigung von Naturkatastrophen wie im Winter 1979 – all das lebt in den Erinnerungen fort, und präsent ist auch – egal, ob nun theoretisch untermauert oder einfach als Alltag genommen – die Geschichte des gemeinsamen Ringens der beiden Staaten Sowjetunion und DDR um Frieden und Entspannung mit der europäischen Sicherheitskonferenz von Helsinki 1975 als Höhepunkt, und gut erinnerlich ist nicht zuletzt die Begeisterung für Michail Gorbatschow, die im Sommer und Herbst 1989 zu einem wichtigen Moment der Ermutigung der friedlichen Revolution wurde.

Weil er das nicht verstehen will und kann, diffamiert der Machtblock alles aus diesen Erfahrungen herrührende Handeln pauschal als „Putinversteherei“. Dass das andere Deutschland tatsächlich ein anderes Deutschland war mit einer anderen Gesellschaftsordnung und darauf sich gründenden anderen Lebensläufen, Erfahrungen, Bildungs-wegen und Seelenzuständen, hat dieser Machtblock nie begriffen, geschweige denn als Chance für die künftige Entwicklung genutzt. Statt gleichberechtigter Zusammenführung hat er von Beginn an Verächtlichmachung und Ausgrenzung betrieben, und das weiter oben schon beschriebene Phänomen, dass man aus dem eigenen Zerrbild von der DDR und ihrer friedlichen Revolution – hier dergestalt, dass man „das Volk“ nur „von der SED befreien“ müsse, dann werde es schon „normal“, sprich: westdeutsch werden – Politik machen zu können glaubt, brachte spezifische, zum Teil ausgeprägt rechte und rechtsextremistische Formen des Protestes hervor, auf die er wiederum mit Diffamierung entweder des gesellschaftlichen Protestes überhaupt oder des ganz allgemein „Ostdeutschen“ reagiert.

Das Problem der LINKEN in diesem komplexen Geschehen ist, dass die an Lebensjahren Älteren ihres westdeutschen Teils wie auch die nach 1990 erwachsen Gewordenen in der Gesamtpartei ebenfalls in bedeutendem Maße von Unkenntnis der DDR geprägt sind und daher bewusst oder auch unbewusst den vom Machtblock absichtsvoll produzierten Bildern und Auffassungen folgen. Welche Bedeutung das für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung hat, wurde zum Beispiel deutlich, als 2013 der Aufstieg der AfD begann. Da wurde auch in der LINKEN schnell ein vereinfachendes Schwarz-Weiß-Bild gezeichnet und den auf Differenzierung drängenden, vor einer Gleichsetzung von AfD und ihrer Wählerinnen- und Wählerschaft warnenden Stimmen ihrer ostdeutschen Kommunalpolitikerinnen und -politiker nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Es gelang der Partei nicht, sich durch eine eigenständige Analyse der wirtschaftlichen und sozialen, aber eben auch kulturellen und sozialpsychologischen Hintergründe dieser Entwicklung klar genug von den vom Machtblock gezeichneten Bildern abzugrenzen, und auch die Dominanz westdeutscher bürgerlicher Kräfte in der Führung der AfD, in der Bundestagsfraktion und in den Landtagsfraktionen in Ost und West konnte nicht so klar herausgearbeitet werden, wie es für die Zeichnung des Gesamtbildes dieser Partei und ihrer engen Bindungen ins bürgerliche Lager notwendig wäre.

DIE LINKE hat die einstige DDR- und Ostkompetenz der PDS, die in den 1990er Jahren die Wahl in den Bundestag und in die ostdeutschen Landesparlamente überhaupt erst möglich gemacht hat, nicht weiterentwickeln können – aber die gesellschaftlichen Probleme, die es zu bewältigen gilt, sind ja nicht verschwunden. Die Folgen der Deindustrialisierung, der Ausdünnung der einst das „flache Land“ flächendeckend erreichenden verkehrlichen, schulischen, medizinischen und kulturellen Infrastruktur und nicht zuletzt auch des tiefgreifenden geistig-kulturellen Wandels wiegen schwer, und schwer wiegt die Tatsache, dass der Osten insgesamt noch immer auf nur drei Viertel der westdeutschen Löhne und Gehälter gesetzt ist, und so verstetigt sich ein weit verbreitetes Bewusstsein von Unterlegenheit und Diskriminierung, das nach politischem Gehör und messbarer Veränderung verlangt. Die Erwartung vieler, dass sich DIE LINKE hier deutlich und kämpferisch von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP unterscheiden würde, hat sich – die Wahlergebnisse bei den Bundestagswahlen und den Landtagswahlen im Osten sprechen eine deutliche Sprache – nicht erfüllt.

Noch einmal: Die Selbstbewusstseinsfrage

Der Versuch, den Ansehensverlust der LINKEN fassbar zu machen, treibt immer wieder zurück zu der Frage des Selbstbewusstseins. Das schon lange zu beobachtende Problem, dass sich das Handeln der Partei immer weniger an der Analyse der tatsächlichen Entwicklung der Gesellschaft als vielmehr an den Wünschen und Forderungen anderer poli-tischer Akteurinnen und Akteure – vor allem der auf Landesebene schon realen und auf Bundesebene herbeigewünschten Koalitionspartner SPD und Grüne – oder des Medien-Mainstreams orientiert, erfährt nun angesichts des Krieges eine selbstzerstörerische Zuspitzung.

Das kommt auf schon fast groteske Weise in dem Spagat zum Ausdruck, mit dem die Führung der Partei und der Parteinahme-Flügel seit dem 24. Februar 2022 versuchen, zu Protesten gegen die bereits realen und noch zu erwartenden Verschlechterungen der sozialen Lage von Millionen Menschen zu mobilisieren und zugleich den Kurs jener ins Unabsehbare führenden, als alternativlos dargestellten Parteinahme und Kriegführung gutzuheißen, der für diese Verschlechterungen ursächlich ist. Wie sehr wird in diesem Herangehen doch die Urteilskraft der Menschen unterschätzt, wenn ihnen nicht zugetraut wird zu erkennen, dass es eine komplette Fehleinschätzung der Lage durch die Bundesregierung war, zu behaupten, ihre Wirtschaftssanktionen gegen Russland würden den Krieg verkürzen, Menschenleben retten, Russland ruinieren und Deutschland nicht treffen. Nichts von allem Behaupteten ist eingetreten, der Krieg droht zu einem sehr langen und immer weiter ausgreifenden zu werden, und es ist ein Wirtschafts- und Energiekrieg im Gange, der in Deutschland nicht nur die Menschen mit geringen Einkommen besonders bedroht, sondern immer stärker auch Handwerksbetriebe und kleine und mittlere Unternehmen, und immer weniger wird klar, worin denn das Ziel bestehen könnte, das zu erreichen den immer höher werdenden Preis lohnen würde.

Und wer ist da, um diesem Verständnis des komplexen Zusammenhangs von Krieg-führung, neuer Blockkonfrontation und Lageverschlechterung eine politische Stimme zu geben? Wer gibt der Friedenssehnsucht eine Stimme, anstatt sie gegen die unter keinen Umständen infrage zu stellende Solidarität mit den Opfern des Krieges auszuspielen?

Und noch weiter gefragt: Wer ist da, um die mit der neuen Blockkonfrontation verbundenen Veränderungen der Gesellschaft in Deutschland zu benennen und Alternati-ven zu entwickeln?

Wie sehr der Krieg die Gesellschaft verändert, ist in den fast acht Jahrzehnten, die seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen sind, ungezählte Male wissenschaftlich und literarisch beschrieben worden. Dabei ist von großer Bedeutung, dass sich in denjenigen Ländern, die damals Opfer der faschistischen Aggression der Achse Berlin-Rom-Tokio gewesen sind, eine umfangreiche Literatur und Geschichtsschreibung entwickelt hat, in der untersucht wird, wie der in seinem Wesen gerechte Verteidigungskrieg die jeweiligen Gesellschaften dennoch dazu gebracht hat, Züge des Aggressors anzunehmen. Das kann hier nur angedeutet werden – etwa mit einem Verweis auf Norman Mailers überaus kritischen Blick auf die Kriegführung der US-Armee im Pazifik in „Die Nackten und die Toten“ oder auf David Gutersons Auseinandersetzung mit der Internierung des japanisch-stämmigen Teils der US-Bevölkerung und selbstverständlich auch mit der Nennung von Namen aus der Sowjetunion und der postsowjetischen Gesellschaft wie Daniil Granin, Wassili Grossman, Swetlana Alexijewitsch oder Wassil Bykau –, aber schon allein mit dieser Andeutung verbindet sich die Frage, wie mit diesem Erbe heute umgegangen wird.

Für den Moment scheint jedenfalls alles vergessen zu sein. Den Krieg zur Begründung nehmend, bildet die zweifellos hoch entwickelte westliche Demokratie „Formate“ aus, die eine demokratische Willensbildung entweder gar nicht erst vorsehen (wie im Falle der sofortigen Parteinahme für die Ukraine und der Bereitstellung des 100-Milliarden-Rüstungsprogramms) oder erheblich erschweren (wie in allen auf den Aggressionsbeginn folgenden Debatten um die Vorgeschichte und den Charakter des Krieges wie auch über den Weg zum Frieden). Das Manichäische der Bewertung der Ereignisse wird ergänzt und untermauert durch die Schaffung von Schubladen, in die die Trägerinnen und Träger von Auffassungen, die anders sind als die des Machtblocks, beliebig hineingeworfen werden können: „Verschwörungserzähler“ oder „Putinversteher“ oder anderes mehr. Dabei wirken die Regierenden und ein großer Teil der Medien eng zusammen, und es ist nicht zu durchschauen, ob das ein bewusst organisierter Prozess ist oder einfach dadurch erfolgt, dass das Manichäische der Argumente von sich aus organisierende Kraft entfaltet.

Eine selbstbewusste sozialistische Opposition muss diese Prozesse entschlüsseln und Alternativen entwickeln, die in einem entschlossenen „Krieg dem Kriege“ ihren Ausgangspunkt haben müssen.

Dabei gehört zur Entschlüsselung auch zu zeigen, dass und wie aus gesellschaftlichen Kräften, die eben noch im Angesicht der drohenden und in vielen Teilen der Welt bereits realen Klimakatastrophe energisch gegen die TINA (There Is No Alternative)-Politik der Herrschenden angetreten sind, solche werden, die plötzlich selbst von einer Alternativlosigkeit ihres Handelns ausgehen.

Von größter Bedeutung schließlich ist, dass der Zusammenhang von Kriegspolitik und gesellschaftlicher Rechtsentwicklung erkannt werden muss. Die AfD hat – so weisen es verschiedene Umfragen aus – in einigen ostdeutschen Bundesländern die höchste Zustimmungsrate aller Parteien. Mit einer dogmatischen Faschismusbetrachtung ist diesem Phänomen nicht beizukommen. Faschismus ist nichts Starres, unverändert Gegebenes, das mit wenigen Worten klar und „ewig“ umrissen werden könnte, sondern er ist eine Bewegungsform des Kapitalismus, je neu sich ausprägend und je mit verschiedenen Selbstbezeichnungen sich verschleiernd. Der Aufstieg der AfD geschieht zur gleichen Zeit, da die Bundesregierung in der Kriegspolitik und in der Gestaltung der neuen Blockkonfrontation eine „Formierung 2.0“ (Klaus Weber) der Gesellschaft betreibt.

DIE LINKE braucht eine große Kraftanstrengung, um sich in diesen tiefgreifenden Veränderungen selbstbewusst zu behaupten.