Vortrag am 10. September 2024 in Berlin zum 30. Jahrestag des Abzugs der (ex)sowjetischen/russischen Streitkräfte aus Deutschland

Adolphi 2024: Der beispiellose Rückzug

Dr. sc. Wolfram Adolphi

Vortrag auf einer Veranstaltung des Arbeitskreises 8. Mai im Bundesverband Deutscher WestOstGesellschaften e.V. (BDWO) im Haus der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin, Straße der Pariser Kommune 8 A, am 10. September 2024 

Der beispiellose Rückzug. Der Abzug der (ex)sowjetischen/russischen Streitkräfte aus Deutschland 1994: Gründe, Hoffnungen, Irrtümer, Wirkungen

Mein Vortrag beginnt mit den Worten zweier großer, den Gang der Welt auf besondere Weise klar, weitsichtig, unbestechlich und radikal – also: an die Wurzeln gehend – erkennender Dichter.

Bertolt Brecht schreibt 1934/35 im von den deutschen Faschisten erzwungenen Exil: „Die große Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis noch nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit von Belang gefunden werden kann) ist es, dass unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden.“ (Gesamtausgabe Band 22.1, S. 88f)

Volker Braun notiert am 27. August 1994 in sein Arbeitsbuch: „die gesonderte verabschiedung der russischen streitkräfte war eine stille kriegserklärung an rußland. Die westalliierten, die im 2. Weltkrieg zögernd die zweite front eröffnet hatten, sind im 3. auf deutscher seite.“ (Werktage 2. Arbeitsbuch 1990-2008, Berlin 2014, S. 282)

Bei diesem Einstieg erahnen Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, dass ich Ihnen keine diplomatiegeschichtliche Abhandlung vorstellen werde mit dieser und jener interpretatorischen Feinheit und Widerlegung dieser und jener Feststellung von diesem und jenem.

Sondern es geht um Weltgeschichte.

Der Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland von 1991 bis 1994 war ein weltpolitisches und weltgeschichtliches Ereignis ersten Ranges. Seine Würdigung kann daher selbstverständlich nur gelingen, wenn wir den Bogen zurückspannen bis zum Zweiten Weltkrieg und seiner Vorgeschichte; und da wir diese Würdigung mit dem zeitlichen Abstand von 30 Jahren vornehmen, muss ebenso selbstverständlich die in diesen 30 Jahren von den verschiedenen beteiligten Seiten geübte politische und militärische Praxis in den Blick genommen werden.

Wie sehr eine solche Übung selbstverständlich von Weltanschauung und mit ihr verbundener Methode der Geschichtsbetrachtung abhängt und wie wirkmächtig die jeweiligen Geschichtsbilder fürs Heutige sind, findet sich trefflich in folgendem fast taufrischen Zitat. Am 6. September, vor wenigen Tagen also, resümierte der noch im Amt befindliche Ministerpräsident Thüringens, Bodo Ramelow (Die Linke), auf seinen öffentlichen Tagebuchseiten den für ihn und seine Partei dramatisch negativen Ausgang der Wahlen am 1. September, blickte auch auf seine 10jährige Amtszeit zurück und fügte zudem eine Anmerkung zur historischen Bedeutung des 1. September hinzu: „Am gleichen Tag im Jahr 1939 überfiel das sog. ‚Dritte Reich‘ Polen, 16 Tage später rückte die Sowjetunion ebenfalls in das westliche Nachbarland ein. Zwei Diktaturen bildeten eine Beutegemeinschaft, zerschlugen den polnischen Staat unter unvorstellbaren menschlichen Opfern und stürzten ganz Europa in den Abgrund.“ – Deutschland und die Sowjetunion in eins gesetzt. Von einem (west)deutschen Politiker der Linken. – Von da der Sprung direkt ins Heute: „Daran sollte jeder denken, der von gerechtem Frieden redet.“ – Woran? An Deutschland? An die Sowjetunion? – Und weiter: „Meine Antwort: eine europäische Friedensordnung und eine weitere Ausgestaltung des ‚Weimarer Dreiecks‘.“ – Das ist die Idee von einem „Kerneuropa“ aus Frankreich, Deutschland und Polen; Russland ausgeklammert. – (bodo-ramelow.de, aufgerufen am 08.09.2024)

Ich lasse das wirken, unterdrücke meinen Drang, darüber zu reden, wie treffend diese Sätze die verheerende Zerrissenheit der Partei Die Linke, zu der ich selbst auch gehöre, in der Friedensfrage dokumentieren, komme zu meinem Vortrag und spreche also zunächst über die

Gründe

des Abzugs, denen selbstverständlich die Gründe fürs fast fünfzig Jahre andauernde Da-Sein der sowjetischen Truppen im Nachkriegsdeutschland und in der DDR noch einmal vorangestellt werden müssen.

Am 22. Juni 1941 überfiel das faschistische Deutschland mit dreieinhalb Millionen Soldaten in 121 Divisionen auf einer Frontlänge von 2130 Kilometern die Sowjetunion und führte bis 1945 einen Krieg, der – ich zitiere ganz bewusst Wikipedia (aufgerufen am 08.09.2024) – „wegen seiner verbrecherischen Ziele, Kriegsführung und Ergebnisse allgemein als der ‚ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt‘, [gilt].“ (Zitat: Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, Piper, München 1963, S. 436). Ebenfalls bei Wikipedia ist zu lesen: „Um für die ‚arische Herrenrasse‘ ‚Lebensraum im Osten‘ zu erobern und den ‚jüdischen Bolschewismus‘ zu vernichten, sollten große Teile der sowjetischen Bevölkerung vertrieben, versklavt und getötet werden. Das NS-Regime nahm den millionenfachen Hungertod sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilisten bewusst in Kauf, ließ sowjetische Offiziere und Kommissare auf der Basis völkerrechtswidriger Befehle ermorden und nutzte diesen Krieg zur damals so bezeichneten ‚Endlösung der Judenfrage‘.“ (Zitat: Hannes Heer, Christian Streit: Vernichtungskrieg im Osten. Judenmord, Kriegsgefangene und Hungerpolitik, VSA, Hamburg 2020).

Die sowjetischen Streitkräfte waren in der DDR, weil sie mit dem Endpunkt 8. Mai 1945 die deutschen Truppen, die in ihrem Heimatland das oben Beschriebene angerichtet und 27 Millionen ihrer Landleute ums Leben gebracht hatten, geschlagen, ihr Heimatland und weitere große Teile Europas von den deutschen Faschisten befreit und nun diese eine große Aufgabe zu erfüllen hatten: zu garantieren, dass es zu einer Wiederholung eines solchen Krieges nie kommen würde.

So einfach war das, so einfach muss das immer wieder gesagt werden. So einfach hat sich die sowjetische Interessenlage dargestellt, und ohne die ist auch das heutige Russland selbstverständlich nicht zu verstehen.

Die Gründe fürs Da-Sein trafen sich im Übrigen – auch das muss immer wieder gesagt werden – mit den Gründen der anderen Alliierten. Die Sowjetunion war Teil der Anti-Hitler-Koalition, ihr Da-Sein in Deutschland mit den Alliierten ausgehandelt.

Und dann dieser vollständige Abzug.

Ein Abzug, dessen Ausgangspunkt in der schon unter Juri Andropow, dann aber – seit 1985 – vor allem unter Michail Gorbatschow gewachsenen Einsicht der sowjetischen Führung lag, dass der von der Sowjetunion geschaffene Block osteuropäischer sozialistischer Länder im Wettlauf mit dem von den USA geführten Westen weder wirtschaftlich noch militärisch würde standhalten können. Zu groß waren die wirtschaftlichen Probleme geworden, zu deutlich zeigte sich, dass die nächste Etappe der wissenschaftlich-technischen Revolution – die Digitalisierung – im Ostblock unter den Bedingungen der Blockkonfrontation nicht gemeistert werden würde, zu sehr bröckelte der Rückhalt der Parteiführungen und Regierungen in der Bevölkerung, zu groß wurden die Widersprüche zwischen den einzelnen Ländern des Warschauer Vertrages.

Die Geschwindigkeit, mit der Gorbatschow daraus den Schluss zog, die 40 Jahre andauernde Konfrontation mit der NATO durch einen beispiellosen Rückzug in Form der Selbstauflösung des Warschauer Vertrages und der damit verbundenen Rücknahme aller sowjetischen Truppen auf sowjetisches Territorium zu beenden, ist wohl nur mit den

Hoffnungen

zu erklären, die ihre Nahrung in einer ebenso beispiellosen Situation im Westen fanden.

Die Sehnsucht nach einer Überwindung der Blockkonfrontation hatte seit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki 1975, an der mit Blick auf die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Lage bekanntlich auch die außereuropäischen Staaten USA und Kanada teilgenommen hatten und deren Zustandekommen entscheidend auf Initiativen der Sowjetunion zurückgegangen war, und im Angesicht der gleichzeitig laufenden Verhandlungen über die gegenseitige Streitkräftereduzierung (MBFR) in Wien und der ersten Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsverträge zwischen der Sowjetunion und den USA (SALT) einen starken Aufschwung erfahren. Zugleich hatte die Stationierung von mit Atomsprengköpfen ausgerüsteten Mittelstreckenraketen der USA in Westdeutschland und anderen Ländern Westeuropas und der Sowjetunion in der DDR und anderen Ländern Osteuropas allen die Gefahr vor Augen geführt, die darin bestand, dass der Prozess der Herbeiführung kollektiver Sicherheit in Europa wieder gestoppt würde. Dieser Gefahr entgegenzutreten, gingen in der BRD Anfang der 1980er Jahre Hunderttausende auf die Straße. Vor diesem Hintergrund stieß Gorbatschow daher in den Bevölkerungen in Ost und West gleichermaßen auf Zustimmung; die in überwältigenden Bildern sich transportierende Zustimmung im Westen mag dann wohl noch einmal eine besondere Wirkung entfaltet haben.

Zumal sie Verstärkung in positiven Reaktionen führender Politikerinnen und Politiker fand. Von Willy Brandt sind solche Reaktionen bekannt; die norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundlandt forderte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 1989, aus der Perestroika in der Sowjetunion eine Perestroika für die Welt zu machen. (Vgl. Willy Brandt, Chancen und Aufgaben internationaler Zusammenarbeit, und Gro Harlem Brundtland, Die globale Perestroika. Schwerpunkte für die neunziger Jahre, beides in: Andreas Giger (Hrsg.), Eine Welt für alle. Visionen von globalem Bewusstsein, Horizonte Verlag Rosenheim 1990, Brandt S. 122-127, Harlem Brundtland S. 128-140.)

Dies mischte sich mit dem perfekt inszenierten Wohlwollen des Machtblocks der USA. Das war selbstverständlich ein vergiftetes. Getragen von der Interpretation der Vorgänge als glorreicher Triumph der eigenen Politik, wurde es vorgetragen mit vorher unbekannter Freundlichkeit und Konzilianz. Dabei hatte dieser Machtblock mit dem Machtantritt Ronald Reagans 1980 einen entschiedenen Kurswechsel vollzogen: Die entspannungsorientierten „Tauben“ waren von konfrontationsbereiten „Falken“ abgelöst worden; Reagan hatte gleich zu Beginn seiner Amtszeit erklärt, dass „der Kommunismus auf den Aschehaufen der Geschichte“ gehöre. Gorbatschow ließ sich davon in seinem Kurs nicht beirren, und der öffentlich sichtbare vertrauensvolle, ja fast freundschaftliche Ton zwischen Moskau und Washington und die Souveränität, mit der Gorbatschow in freier Rede seine Gedanken von einem „Gemeinsamen Haus Europa“ und einer weltweiten Sicherheitsarchitektur entwickelte, versteckten das Vergiftetsein.

Auch die Bundesregierung steuerte Wohlwollen bei. Es war auch vergiftet, aber anders als das amerikanische. Der Anteil an wirklicher Freude war größer, denn der Gorbatschow-Kurs verhieß zunächst noch versteckt, dann immer offener die Chance, ein Ende der Teilung Deutschlands für möglich zu halten. Diese Chance speiste sich für die Bundesregierung nicht nur aus Reden, sondern auch aus der Erfahrung, dass die sowjetische Führung Mitte der 1980er Jahre alle entscheidenden Deutschlandfragen nur noch mit ihr verhandelte und nicht mehr mit der DDR; die Existenz der DDR also seitens der Sowjetunion nicht mehr auf ewig angelegt war, sondern durchaus zur Debatte stand.

Im offensichtlichen Vertrauen darauf, dass all dieses Wohlwollen in einen ernsthaften Umgang mit den Interessen der Sowjetunion münden würde, unterlag Gorbatschow gleich einer ganzen Reihe von

Irrtümern.

Erstens. Alle internationalen Vereinbarungen, die die Sowjetunion bis dahin geschlossen hatte, basierten auf einer militärischen und politischen Stärke, die den Westen in der Wahrnahme seiner systemimmanenten Expansions- und Machtinteressen einschränkte. Es war ein Irrtum anzunehmen, die Sowjetunion bleibe auch ohne diese Einschränkungskraft ein ernstgenommener Widerpart und Partner. An den systemimmanenten Interessen des Westens im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen hatte sich trotz aller Gefühls- und Propagandaaufwallungen selbstverständlich nichts geändert.

Zweitens. Die Begeisterung, die Gorbatschow seitens der Bevölkerungen entgegenschlug, hat ihn offensichtlich dazu verführt zu glauben, er könne auf eine kollektive Beratung seines Kurses verzichten. Mit Bezug auf die DDR, für die der Gesamtprozess natürlich die gravierendsten Auswirkungen hatte, weil es bei ihr buchstäblich um Sein oder Nichtsein ging, ist das besonders augenscheinlich. Erich Honecker erschien einem großen Teil der DDR-Bevölkerung im Vergleich mit Gorbatschow als halsstarriger, unbelehrbarer Repräsentant des Überlebten, längst Vergangenen, und so fühlte Gorbatschow zusätzlichen Grund, ihn in seinen Entscheidungswegen einfach zu übergehen – so, wie das seine Vorgänger auch schon mit Walter Ulbricht und Honecker immer wieder getan hatten. Der Irrtum aber war, dass mit solchem Vorgehen er selbst vor Demütigung und Zurückweisung geschützt sein würde. Das traf nicht ein. Honecker stürzte zuerst, Gorbatschow nur knapp zwei Jahre später.

Der eingangs schon mit seinem Tagebucheintrag vom 27.8.94 zitierte Volker Braun übrigens im selbigen Eintrag zu Gorbatschow: „gorbatschow erklärt sich wie ein quisling: das sowjetische ja zum vereinigungsvertrag sei nicht an die anerkennung der bodenreform gebunden gewesen.“

Drittens. So wenig, wie der Kurs der Selbstaufgabe im Warschauer Vertrag kollektiv beraten worden ist, so wenig war er das Resultat gründlicher kollektiver Arbeit in der Sowjetunion. Für eine kurze Zeit nach dem XXVII. Parteitag der KPdSU mochte es scheinen, dass die Partei in der Lage sein würde, ein den komplexen Herausforderungen angemessenes Reformprogramm zu erarbeiten und damit den weltpolitischen Entscheidungen Basis und Rückhalt zu geben. 1990/91 zeigte sich endgültig, dass das eine Illusion gewesen ist.

Es ist – so lässt sich wohl zusammenfassen – Gorbatschows historische Tragik, dass er mit seinem Schritt der ohne einen einzigen Schuss realisierten Zurücknahme der sowjetischen Militärmacht einerseits ein Fenster zur Rettung des Weltfriedens öffnete, andererseits aber mit seinem unrealistischen Vertrauen in den westlichen Macht- und Militärblock alle Instrumente künftiger Einflussnahme auf das Weltgeschehen aus der Hand gab.

Irrtümer

gab es jedoch auch im Westen. Sie bestanden vor allem in der seltsamen Gewissheit, dass die Schwächung Russlands, wie sie sich im Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Vertrages und im Abzug der Truppen aus Deutschland dargestellt hatte, „ewig“ sein würde und auf Gorbatschow und seinen Nachfolger Boris Jelzin nur immer weitere sich dem Westen unterwerfende Führungskräfte folgen würden. Das war eine gewaltige Unterschätzung des geopolitischen Gewichts Russlands in Vergangenheit und Gegenwart, der Stärke des militärisch-industriellen Komplexes des Landes, der Bedeutung des russischen Großmachtgefühls in der Gesellschaft und der Bereitschaft und Fähigkeit, sich seiner geopolitischen Interessen wieder zu besinnen und zu ihrer Sicherung auch vor Gewalt nicht zurückzuschrecken.

Dies kann nicht oft genug betont werden: Russland sieht sich in – sachlich wohlbegründeter – geopolitischer Interessenkontinuität mit der Sowjetunion, nimmt für sich als Siegermacht im Zweiten Weltkrieg die gleichen Rechte in Anspruch wie die anderen Siegermächte und selbstverständlich insbesondere wie die USA. Welchen Grund auch sollte es dafür geben, dies nicht zu tun? Die Tatsache etwa, dass das alles der Regierung der Bundesrepublik Deutschland nicht gefällt? Der deutschen Regierung? Ausgerechnet?

Russland will wie die USA der Früchte des Sieges über das faschistische Deutschland nicht beraubt werden, und es hat zudem den Anspruch, auch einen weltpolitischen und nationalen Gewinn aus seiner beispiellosen Rückzugsaktion Anfang der 1990er Jahre zu ziehen. Ihm dies zu versagen geht nur unter der Voraussetzung der Ablehnung der Universalität völkerrechtlicher Prinzipen und Praxen. Das wird im deutschen Mainstream besonders deutlich: Von einer Gleichbehandlung der beiden Siegermächte USA und Sowjetunion/Russland kann an überhaupt keiner Stelle die Rede sein. Das heißt aber im Klartext: Der im zweiten Weltkrieg Besiegte – Deutschland – entscheidet über seinen Umgang mit den Siegern, wählt den „richtigen“ Sieger aus, identifiziert sich mit dessen Interessen und spricht dem „falschen“ alle eigenen Interessen ab.

Damit sind wir bei den

Wirkungen

des Truppenabzugs. Er fiel in die Zeit eines großen Macht- und Vertragsvakuums in Europa, und in seiner Realisierung verfestigte er die Schwächung Russlands rasant.

Als ein fortwirkendes Grundübel zeigte sich das Desinteresse der westlichen Sieger, die europäische Sicherheitsstruktur nach der Zeitenwende – denn die Selbstauflösung des Ostblocks und die damit vollzogene Beendigung der Ost-West-Blockkonfrontation war die wirkliche Zeitenwende – in einer dem Ereignis würdigen Weise fortzuschreiben. Die Schlussakte der KSZE von 1975 enthielt alles, was eine kollektive Friedenssicherung ausmacht. Sie basierte auf dem Konzept der friedlichen Koexistenz; dieses wiederum hatte die gegenseitige Anerkennung der jeweiligen Interessenlagen zum Grundsatz. Die Idee Gorbatschows vom „Gemeinsamen Haus Europa“ hätte eine Basis für eine neue KSZE sein können.

Statt aber eine solche überhaupt nur in Erwägung zu ziehen – was übrigens auch eine öffentliche Debatte der Bevölkerungen über das veränderte Europa hätte in Gang setzen können, mit der man sich überhaupt erst einmal der Tiefe der Veränderungen in allen Bereichen des Lebens bewusst werden konnte –, traf man übereilt und im nichtöffentlichen Raum verharrend verschiedene kleine Vereinbarungen, von denen man annahm, sie würden ausreichen, dem veränderten Europa gerecht zu werden.

Aber sie reichten nicht aus. Jugoslawien versank in mehreren Bürgerkriegen; die Sowjetunion zerfiel; die nichtrussischen Sowjetrepubliken trennten sich mehr oder weniger entschieden von Russland ab; die Staaten des ehemaligen Ostblocks suchten sich ihren je eigenen Weg. Mit großer Wucht – und selbstverständlich befeuert durch ökonomische Ungleichheiten, wie sie durch die brachiale Überstülpung marktwirtschaftlicher Verhältnisse über die vierzig Jahre lang erprobten sozialistischen entstanden – brachen uralte Nationalitätenkonflikte wieder hervor.

Die USA agierten als „Weltsieger“, die für alle anderen Interessenlagen nur Missachtung übrig hatten. Auf den sowjetischen Generalrückzug im Januar 1991 antworteten sie mit dem ersten Irakkrieg, auf den Zerfall Jugoslawiens mit der spalterischen Unterstützung einzelner nun selbstständig werdender Teilstaaten gegen Serbien, auf den Zerfall der Sowjetunion mit der spalterischen Unterstützung gegen Russland. Sofort zeichnete sich ab, dass den baltischen Staaten eine besondere Rolle zukommen würde. Im 2001 beginnenden Afghanistankrieg fiel den zentralasiatischen einstigen Sowjetrepubliken Usbekistan und Turkmenistan eine den USA und der NATO dienende Rolle zu. Was die Ukraine betraf, so brauchte es einige Jahre, aber dann wurde sie umso intensiver in die geostrategischen Planungen der USA und der NATO eingebaut. Die aktive Teilnahme der NATO am Kosovokrieg 1999 markierte nachdrücklich die Bereitschaft zur Eskalation der ungelösten Konflikte.

Russland vermochte all dem nichts entgegenzusetzen. Es spielte weder in den europäischen noch in den Weltangelegenheiten irgendeine Rolle. Diejenigen, die den Abschied der Streitkräfte aus Deutschland separat und von den westlichen Alliierten getrennt geplant hatten, wussten genau, was sie taten. Ihr Handeln brachte die in der Weltpolitik vor sich gehende Demütigung Russlands auf den Punkt.

Es konnte nicht überraschen, dass der russische Machtblock nach Jelzin einen völlig anderen Politikertyp an die Spitze schob. Wladimir Putin war in der Lage, den fortlebenden russischen Interessen wieder weltpolitisches Gewicht zu verleihen. Der Westen ist steter Zeuge seines Aufstiegs gewesen, hat die Ansprüche Putins vernommen und auch seine Angebote zur Zusammenarbeit, und er hat ihm dabei viele Jahre lang rote Teppiche ausgerollt.

Aber das ist ein anderes Kapitel.

Hier noch einige Überlegungen zu den

Wirkungen in Deutschland.

Der Abzug der Truppen war wie das ganze Verschwinden der DDR für die allermeisten Menschen in Westdeutschland nie ein Problem. Es verschwand etwas, mit dem sie – wie sie glaubten – ohnehin nie etwas zu tun hatten; etwas, das ihnen völlig fremd war, und wenn sie es nicht hassten, so war es ihnen doch gleichgültig. Sie waren gewöhnt, den Überfall auf die Sowjetunion genau wie die Nazis selbst als „Russlandfeldzug“ zu bezeichnen, waren froh, es mit ihren westlichen Besatzungsmächten „gut getroffen“ zu haben, und nun zogen sie eben ab, „die Russen“ – und es scherte die Westdeutschen in diesem Moment überhaupt nicht, wie viele dieser „Russen“ bis 1991 auch Ukrainer, Armenier, Georgier usw. waren, und überhaut war ihnen das alles völlig fremd.

Und fremd war ihnen auch, darüber nachzudenken, dass es ihren ostdeutschen Landsleuten eben nicht fremd war. Dass die fast 50 Jahre Besatzung selbstverständlich tiefe Spuren hinterlassen hatten – und zwar in jeglicher, hier unmöglich im Detail beschreibbarer Art und Vielfalt. Die Truppen waren nicht wegzudenkender Bestandteil eines Systems umfangreicher bilateraler Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der DDR, und selbstverständlich ist es so, dass es die DDR ohne die Stationierung dieser sowjetischen Truppen nicht gegeben hätte.

Diese Grundwahrheit sei hier noch einmal in aller Deutlichkeit ausgeführt: Die DDR war nicht das Resultat einer Revolution in Deutschland, sondern das Resultat des Sieges der Sowjetunion in einem von Deutschland vom Zaune gebrochenen Weltkrieg und der sich daraus für sie ergebenden Ansprüche, und man kann selbstverständlich der Meinung sein, dass am 17. Juni 1953 die DDR-Führung hätte zurücktreten und die DDR dem Westen zugeschlagen werden müssen, aber wer das meint, kann nicht sagen, warum die Sowjetunion einseitig ihre Besatzungszone hätte aufgeben und ihre Soldaten zurückziehen sollen, und das gleiche gilt für den 13. August 1961. Natürlich ging es immer um die Interessen der Siegermacht Sowjetunion, und die maßen sich an denen der anderen drei Besatzungsmächte, aber zusätzlich – und für die Deutschen überaus gewichtig – trafen und verbanden sie sich eben auch mit den gesellschaftlichen Plänen und Vorhaben deutscher Antifaschisten, Sozialisten, Kommunisten, die es ernst meinten nicht nur mit der Überwindung des Faschismus in den Köpfen, sondern eben auch damit, dem Faschismus seine ökonomische Basis zu entziehen, will sagen: das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu beenden.  

Ganz und gar nicht unwichtig ist an dieser Stelle übrigens der Verweis auf die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die verschiedenen Bundesregierungen und das Beharren auf einer Offenhaltung der Frage der ehemaligen deutschen Ostgebiete. Es liegt auf der Hand, dass dies von der Siegermacht Sowjetunion als offener Affront gewertet werden musste.

Der Abzug der Truppen also für die Westdeutschen ebenso wie das Verschwinden der DDR die Herstellung eines immer schon gewollten „Normalzustandes“. Bei dem nicht störte, dass die Siegermacht USA auch weiterhin militärisch in der Bundesrepublik präsent blieben, und sogar mit Atomwaffen.

Wie sehr die kurzlebige DDR-Regierung der Monate April bis September 1990 sich die Auffassung zu eigen gemacht hatte, dass mit dem Verschwinden ihres Landes auch die Interessen der Sowjetunion zu verschwinden hätten, zeigt sich an einigen Passagen der Memoiren des seinerzeitigen Regierungssprechers Matthias Gehler. Der erinnert sich 2024 des Staatsbesuches von Ministerpräsident Lothar de Maizière in der Sowjetunion Ende April 1990. In dessen Vorbereitung habe Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow ein „Non Paper“ unterbreitet, in dem gestanden habe, dass „die ‚Eingliederung eines vereinigten Deutschlands in die NATO‘ […] für die Sowjetunion ‚unannehmbar‘“ sei. „Ein solches Diktat“ – meint Gehler – habe de Maizière „nicht erwartet“. Er – Gehler – und de Maizière hätten es als „Einschüchterungsversuch“ gewertet, den „jede demokratisch gewählte Regierung […] als Brüskierung und Provokation empfinden“ würde. „Wir sind“, fährt Gehler fort, „keine Vasallen. Der DDR-Premier ist unendlich wütend“ (Matthias Gehler, „Wollen Sie die Einheit – oder nicht?“. Erinnerungen des Regierungssprechers der DDR an das Jahr 1990, Berlin 2024, S. 98f.). In Moskau angekommen, erfährt er, dass Außenminister Eduard Schewardnadse hinter dem Non Paper steht. „Er“ – Schewardnadse – „stellt klar, dass ein Verbleib ganz Deutschlands in der NATO inakzeptabel sei.“ Außenminister Markus Meckel habe daraufhin „versucht, der sowjetischen Seite zu vermitteln, […] dass es aufgrund der Erfahrungen mit der deutschen Geschichte auf keinen Fall ein neutrales, blockfreies Deutschland geben dürfe“ (S. 115f.). Und dann Gorbatschow selbst. Er – schreibt Gehler – „wird hart und diktiert seine Bedingungen für die deutsche Einheit: kein Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes und keine NATO-Mitgliedschaft.“ De Maizière, „den der Gang bis zu Gorbatschows Büro durch die Zarensäle schon wütend gemacht“ habe, habe „verärgert“ gegengehalten. Er fühle sich „wie ein Befehlsempfänger behandelt“; „er sei frei gewählt worden und wisse etwa siebzig Prozent der Volkskammerabgeordneten hinter sich. Gorbatschow könne weder das eine noch das andere von sich behaupten“ (S. 117).

Was für ein Einblick in die Gedankenwelt zweier kurzzeitig in die Weltpolitik geworfener deutscher Männer.

Und was sagt Gehler über die sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und deren Abzug bis 1994? „Die sowjetischen Streitkräfte in der DDR“ seien „durchweg offensiv bewaffnet“ gewesen. 1990 sei es noch um „4.200 Panzer, 700 Kampfjets und 677.000 Tonnen Munition“ gegangen, „über die im Rahmen des Vier-plus-Zwei-Vertrages verhandelt werden musste“. „Auch Atomwaffen“ hätten „zum Arsenal der Angriffsstrategie“ gehört. „Der Krieg sollte auf das Territorium des Gegners getragen werden.“

Kein Wort der Würdigung hat Gehler für die sowjetischen respektive russischen Soldaten und Offiziere übrig. Keine Reflektion über die großen Konfrontationen im Kalten Krieg und ihre friedliche Beilegung kommt ihm in den Sinn. Alles ist Dünkel, alles „Befreiung“.

Und weiter: „Der Abzug der etwa 340.000 Sowjetsoldaten […] hatte seinen Preis.“ Aus den „zunächst geforderten 18,5 Milliarden DM“ seien schließlich „die von Kohl angeblich im Kaukasus, aber zuvor in Moskau ausgehandelten 15 Milliarden DM“ geworden – für „Umschulungen, Transport und neue Wohnungen“. Das Geld sei jedoch „teilweise in korrupten Kanälen“ verschwunden; Wohnungen seien „nicht gebaut“ worden, „weil beauftragte türkische Firmen bankrottgingen“, und „in die dann von südkoreanischen Firmen fertiggestellten Häuser“ seien „oft nicht die Heimkehrer aus Deutschland“ eingezogen, „für die sie gedacht waren.“

Und dann präsentiert Gehler noch „einen aktuellen Zusammenhang“: „Unter den errichteten Soldatensiedlungen“ sei „beispielsweise Bogutschar“ gewesen. Die „Kleinstadt im Oblast Woronesh an der ukrainischen Grenze“ sei „mit deutschem Geld zur Garnison ausgebaut“ worden und „heute unmittelbares Hinterland im Krieg gegen die Ukraine“ (S. 121).

In all diesen 2024 zum Druck gebrachten Sätzen spiegelt sich erstens der Geist der 1990 vollzogenen Selbstabtrennung nicht nur von der Außenpolitik der DDR bis zum Oktober 1989, sondern auch von aller historischen deutschen Verantwortung für die Gestaltung friedlicher, die Interessen der Sowjetunion bzw. Russlands ernst nehmender bilateraler Beziehungen, und es spiegelt sich zweitens darin auch der Geist der am 27. Februar 2022 von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“.

Im kommenden Jahr 2025 steht der 80. Jahrestag des Sieges der Anti-Hitler-Koalition über den deutschen Faschismus ins Haus. Zwei Länder, die 1941 gemeinsam vom deutschen Aggressionsheer überrollt und unterschiedslos der Vernichtung slawischen Lebens und slawischer Kultur und der in ihren Bevölkerungen beheimateten jüdischen Lebens und jüdischer Kultur preisgegeben wurden, stehen im Krieg miteinander – einem Krieg, in dem sich neue geopolitische Verteilungskämpfe spiegeln. Der Kampf um die Deutung der Geschichte ist von diesem Krieg nicht zu trennen und wird in eine neue Phase treten.

Die Gefahr, dass Volker Brauns düstere Vorausschau aus dem Jahre 1994 Realität wird, ist riesengroß.