Auf Einladung des Fördervereins von Schloss Biesdorf in Berlin habe ich am 18. September 2024 dort den folgenden Vortrag gehalten.

Adolphi 2024: Siemens und China. Ein Jahrhundertblick

Dr. sc. Wolfram Adolphi

Siemens und China. Ein Jahrhundertblick

Vortrag, gehalten im Schloss Biesdorf, der einstigen Siemens-Villa, in Berlin

Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer,

„Mit China werden wir wohl bald in Gang kommen. Der hiesige Gesandte hat nach China berichtet und in Folge dessen hat die Chin. Verwaltung […] den Wunsch ausgedrückt, Lichtmaschinen von uns zu beziehen.“

Das schreibt Werner von Siemens 1879 – da ist er 63 Jahre alt – an seinen Bruder Carl.

War es schwer, auf diesen Text zu stoßen? Nein. Ein einfacher Klick auf Siemens in China, und das optimistische Zitat sticht sofort ins Auge. Und gleichermaßen leicht ist die Frage beantwortet, wer denn der von Siemens gemeinte „hiesige Gesandte“ war: Es war ein Mann namens Li Fengbao. Der hatte – nachdem die Gesandtschaft 1877 eröffnet und deren erster Chef Liu Xihong schon nach neun Monaten wieder abberufen worden war – seinen Dienst am 2. November 1878 angetreten, von ihm gibt es ein Tagebuch, in dem er vom Empfang Kaiser Wilhelms I. am 8. Dezember 1878 für die in Preußen akkreditierten Gesandten erzählt, dass Kaiserin Augusta seine traditionelle chinesische Kleidung als außerordentlich vornehm und wunderhübsch angesehen habe, und er muss ein umtriebiger Erkunder von Einkaufsmöglichkeiten gewesen sein. Bei Wikipedia jedenfalls ist neben dem hier schon Vorgetragenen zu lesen, dass er von seiner Regierung angewiesen war, zwei Panzerschiffe zu erwerben, und dass er auch mit der Krupp AG Geschäfte anbahnte (Wikipedia, Eintrag Li Fengbao, Aufruf 15.09.2024). Da passten Lichtmaschinen gut.

Wie schnell und einfach, verehrte Anwesende, gelangen wir an diese Informationen! Die Digitalisierung, diese ungeheure Revolutionierung der Informationsgewinnung, Informationsspeicherung und Informationsverbreitung, macht’s möglich. Ein Stichwort reicht. Egal, ob wir Fachkräfte sind oder nicht.

Denn das muss ich Ihnen zu allem Anfang sagen: Weder bin ich ein Spezialist für die Geschichte des Siemens-Konzerns, noch habe ich Ahnung von Elektrik und Elektrotechnik – jenen Fachgebieten also, in denen Siemens seit der Gründung der Telegraphen Bau-Anstalt von Siemens & Halske in Berlin am 1. Oktober 1847 zu Hause ist und mit denen der Konzern seinen Weltruf begründet.

Trotzdem verspreche ich Ihnen eine interessante Stunde mit mir. Warum?

Weil ich eine Idee habe, wie ich die Digitalisierung für die Befassung mit dem vorliegenden Thema nutzen kann, und weil ich auf ein paar Jahrzehnte wissenschaftlicher Forschungsarbeit zu China und zu den deutsch-chinesischen Beziehungen zurückgreifen kann. Das bietet mir Rahmen und Struktur. (Näheres zu diesen Forschungen übrigens finden Sie – wie kann es anders sein – auf einer Website. Sie trägt den Namen asiaticus.de.)

Mit dieser Idee im Rücken also will ich Ihnen ein paar Momentaufnahmen zu Siemens in China anbieten – Momentaufnahmen, mit denen naturgemäß eine Menge an Weglassungen und radikalen Verkürzungen einhergeht, die Ihnen aber hoffentlich Anlass zu Widerspruch sind und vielleicht auch zu Zustimmung, auf jeden Fall aber zu eigenem Weiterdenken und möglichst zu dem Gefühl, dass Erhellung über Geschichte nicht unbedingt über ausführliche Chroniken entstehen muss –, und ich springe daher von meinem Hinweis auf den digitalisiert leichten und schnellen Zugang zu Informationen ganz traditionell analog und händisch in ein 1568 Seiten starkes Buch, das von dem deutschen Historiker Jürgen Osterhammel verfasst wurde, 2009 in München erschienen ist und den Titel Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts trägt. Dort beginnt auf Seite 1023 ein Abschnitt über eine frühere Revolutionierung der Informationsverbreitung: die Verkabelung der Welt.

An dieser hat Siemens schon teilgenommen.

Und zwar nicht am Rand, sondern mittendrin, als

Akteur der Globalisierung.

Das war keine Kleinigkeit. Mit dieser Verkabelung, die Mitte des 19. Jahrhunderts die Epoche der Telegraphie und des Telegramms einleitete, aus der dann im 20. Jahrhundert die Epoche der Telefonie erwuchs, wurde es – so schreibt es Osterhammel – möglich, „Informationen schneller reisen zu lassen als Menschen und Objekte“. Erfolgreich wurden „von Spezialschiffen aus dicke und geschützte Unterseekabel über viele tausend ozeanische Kilometer hinweg verlegt“, auch die „oft nicht wesentlich einfachere […] Logistik der Landesverbindungen“ wurde gemeistert (S. 1023), und so gelang nach ersten, aber noch scheiternden Versuchen 1857/58 im Jahre 1866 einem US-amerikanischen Unternehmen die erstmalige Verlegung eines transatlantischen Kabels zwischen Großbritannien und den USA (Wikipedia, Eintrag Transatlantisches Telefonkabel, Aufruf 16.09.2024), im Jahre 1870 wurde Indien angeschlossen, dann folgten 1871 China, Japan und Australien, 1872 die Karibik, 1875 alle größeren Staaten Südamerikas, 1879 Süd- und Ostafrika und 1886 Westafrika (Osterhammel, S. 1025).

Und Siemens – noch einmal sei’s gesagt – war einer der Akteure dieser Revolution. Die Brüder Werner, Wilhelm, Carl, Walter und Otto Siemens spielten mit verschiedenen miteinander verbundenen Firmen nicht einfach nur mit, sondern in der ersten Liga. Bis 1867 war auch Johann Georg Halske, der Partner von Werner von Siemens bei der Firmengründung, noch dabei gewesen, aber nach zwanzig Jahren war der Vorrat an im Übrigen glücklichster gegenseitiger Anregung und Ergänzung aufgebraucht.

Im Wikipedia-Eintrag zu Werner von Siemens – ich springe zurück ins Digitale – findet sich das Foto eines Dampfschiffes mit der Unterschrift Die Faraday, Kabelleger von Siemens Brothers & Co, 1874, und im Text ist vermerkt, dass 1870 „nach dreijähriger Bauzeit […] die Indo-Europäische Telegraphenlinie von London über Teheran nach Kalkutta mit einer Länge von über 11.000 Kilometern in Betrieb [ging]“ (Wikipedia, Eintrag Werner von Siemens, Aufruf 15.09.2024).

Für diesen Erfolg hatte der 1816 geborene Werner Siemens, der 1888 seiner Verdienste wegen in den Adelsstand erhoben wurde und daher ebenso wie einst Johann Wolfgang von Goethe mit einem „von“ benannt werden darf, in eigener Person wichtige technische Voraussetzungen geschaffen: Im Jahre 1847 hatte er ein Verfahren entwickelt, um Drähte mit einer nahtlosen Umhüllung aus Guttapercha zu versehen, womit die Grundlage für die bis heute praktizierte Isolierung von elektrischen Kabeln geschaffen war, und 1866 hatte er den ersten elektrischen Generator auf Grundlage des dynamoelektrischen Prinzips vorgestellt und damit der Anwendung des flexibel einzusetzenden Elektromotors den Weg geebnet.

Und auch in Sachen Telegraphenleitung gab es frühe Erfahrungen. 1848 verbanden Siemens & Halske Berlin und Frankfurt am Main, den Tagungsort der deutschen Nationalversammlung, miteinander. So wusste – können wir bei Wikipedia lesen – König Friedrich Wilhelm IV. schon eine Stunde nach der Abstimmung, dass die Nationalversammlung ihm die Kaiserwürde antragen wollte. Die sogenannte Kaiserdeputation, die ihm das persönlich mitteilen sollte, traf erst eine Woche später in Berlin ein.

1852 nahmen Siemens & Halske eine Telegraphenverbindung von Warschau nach St. Petersburg und von St. Petersburg nach Moskau in Angriff. Rückschläge bremsten, wurden aber überwunden: 1864 misslang die Verlegung eines Seekabels von Cartagena in Spanien nach Oran in der damaligen französischen Kolonie Algerien, aber dann folgten weitere „Meilensteine“: 1874 die zweite transatlantische Telegraphenleitung, verlegt von der schon genannten Faraday – diese Leitung übrigens war dem Wikipedia-Eintrag Transatlantisches Telefonkabel zufolge „das erste dauerhaft funktionstüchtige transatlantische Telegrafenkabel“ und blieb „bis 1931 in Funktion“ –, 1879 die erste elektrische Lokomotive und die erste elektrische Straßenbeleuchtung (in Berlin), 1880 den ersten elektrischen Aufzug (in Mannheim) und 1881 die erste elektrische Straßenbahn (in Groß-Lichterfelde, heute Berlin-Lichterfelde) (Wikipedia, Eintrag Werner von Siemens, Aufruf 15.09.2024).

Osterhammel hat Recht, wenn er schreibt: „Waren Großbritannien das Pionierland der globalen Telegraphie und die USA der Geburtsort des Telephons, so lag das Weltzentrum der Elektrizität in Deutschland, genauer in Berlin.“ (S. 1029) Denn dort gab es Siemens, aber nicht Siemens allein, sondern auch die 1883 von Emil Rathenau gegründete Deutschen Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität, die von 1888 an unter dem Namen Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) von sich reden machte und zu einem Dauerkonkurrenten von Siemens werden sollte, und an vielen kleineren Firmen mehr.

Aber Siemens war schon etwas sehr Besonderes, denn im Chef des Ganzen, in Werner von Siemens, paarten sich Erfindergeist, Geschäftsinstinkt und wohl auch eine ganze Portion Abenteuerlust, denn sonst wäre das doch nicht gegangen mit dem

Aufbruch nach China.

Der hatte schon sieben Jahre vor der eingangs zitierten Mitteilung an Carl Siemens – im Jahre 1872 – begonnen, denn da hatte die Firma Siemens, so lässt uns die Website Siemens in China wissen, Zeigertelegrafen nach China geliefert. 1879 aber begann eine regelmäßige und rege Geschäftstätigkeit, und das hing damit zusammen, dass die Firma feste Kooperationen mit den deutschen Handelshäusern in China aufbaute. Die hatten schon jahrzehntelange Erfahrungen und die nötigen Vernetzungen, um den Absatz von Telegrafen, Telefonapparaten und Wassermessern zu garantieren, und mit ihnen gelang es auch, erste Großprojekte in Angriff zu nehmen.

So zum Beispiel unter Beteiligung – ich beziehe mich weiter auf die genannte Website Siemens in China – des Hamburger Handelshauses H. Mandl & Co. 1899 den Bau der ersten elektrischen Straßenbahn Chinas. Den Auftrag erteilt hatte die Kaiserliche Eisenbahngesellschaft für Nordchina, die Strecke führte vom Zentrum Beijings drei Kilometer weit zum Bahnhof, mit 20 Stundenkilometern war die Bahn eine der schnellsten der Welt, und was nicht auf der Website steht, aber auch nie vergessen werden darf: Es wurden Tausende chinesische Arbeiter zu ortsüblichen Niedriglöhnen angeheuert, die den Bau realisierten.

Des Weiteren nennt die Website für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg den Bau von Kraftwerken, eines Stahlwerkes und der ersten Hochspannungsleitung des Landes, und um alles aus der Nähe koordinieren zu können, gründete Siemens 1904 ein Technisches Büro in Shanghai. Das wurde 1910 zur ersten eigenständigen Siemens-Niederlassung aufgewertet, und ebenfalls 1910 wurde ein Büro in Beijing eröffnet, 1911 eines in Hongkong, das damals britische Kolonie war, und 1913 eines in Chengdu. Damit vergrößerte die Firma ihr eigenes chinabezogenes Know how erheblich, trat sie in immer mehr Fällen mit ihren Kunden in direkten Kontakt, verbesserte sie ihre Marktforschung und schuf so die Voraussetzungen dafür, sich allmählich von den Handelshäusern und den durch ihre Vermittlung entstehenden Mehrkosten zu lösen.

Aber noch einmal zurück zur Jahrhundertwende. Wie sind sie da einzubetten, die Siemens-Geschäfte, in den deutsch-chinesischen Handel? Wie dürfen wir uns diesen Handel vorstellen?

Ich berufe mich auf ein Buch, das Bruno Navarra, der „Mitbegründer und bis 1899 Herausgeber und Chefredakteur des ‚Ostasiatischen Lloyd‘ in Shanghai“, mithin der1886 ins Leben getretenen ersten deutschsprachigen Zeitung in China, nicht nur verfasst, sondern auch „Seiner Königlichen Hoheit dem Prinzen Heinrich von Preußen in tiefster Ehrfurcht gewidmet“ und 1901 in Bremen veröffentlicht hat. Es trägt den Titel China und die Chinesen, und in Band II ist auf Seite 716 geschrieben: „Unter den Artikeln, die China, Hongkong und Macao mit eingeschlossen, dem deutschen Zollgebiet liefert, sind in erster Linie Gold, Bettfedern, Thee, Borsten, Galläpfel, Kampfer, ungefärbte Rohseide, Strohbänder und überhaupt Stroh- und Bastwaren, ungefüttertes Pelzwerk und Rindshäute zu nennen. Vom deutschen Zollgebiet empfängt China hauptsächlich Farbstoffe, Kriegsmaterial und Schiffe, Eisen- und Textilwaren, auch Kupferlegierungen und Bier.“ Die Einfuhr umfasste 1897 57,5 Mio. Mark, 1898 39,5 Mio. Mark und 1899 29,0 Mio. Mark; die Ausfuhr 1897 32,3 Mio. Mark, 1898 48,0 Mio. Mark und 1899 50,6 Mio. Mark. Fürs ganze Jahrzehnt ergab sich ein Ausfuhrüberschuss, nur im Jahre 1897 war die Einfuhr größer als die Ausfuhr.

Auf der Website de.statista.com ist heute zu erfahren, dass die Exporte des Deutschen Reiches im Jahre 1900 einen Umfang von 4,6 Mrd. Mark hatten und die Importe einen Umfang von 5,7 Mrd. Mark. Das bedeutet, dass der Chinahandel rund ein Prozent des Gesamtaußenhandels ausmachte. Das ist nicht gerade das, was man einen großen Brocken nennt.

Wo das Deutsche Reich mit seinen Umsätzen im chinesischen Außenhandel insgesamt stand, vermochte Bruno Navarra in seinem Buch nicht zu sagen, da „in der chinesischen Statistik […] das europäische Festland mit Ausnahme von Russland als eine Einheit aufgeführt wird“ (S. 716). Aber hilfsweise bietet er uns „statistische Aufstellungen“ an, „die uns die Anteilnahme der Schiffe der verschiedenen Nationen sowohl an den direkten Fahrten nach China als auch an der Küstenschiffahrt in den chinesischen Gewässern selbst vor Augen führen“ (S. 713). Diese Übersicht weist Großbritannien mit 50,67 Prozent Anteil aus, gefolgt von China mit 33,38 Prozent und Deutschland mit 5,92 Prozent. Es folgen Japan mit 4,89, Frankreich mit 2,44, Schweden und Norwegen mit 1,21 Prozent, Russland mit 0,75 und die USA mit 0,48 Prozent (S. 714).

Das alles zeigt uns: Die globale Kolonialmacht Großbritannien dominierte die imperialistischen Ausbeutungsverhältnisse auch in China; das Deutsche Reich, erst 1871 gegründet, unternahm Anläufe, sich ein eigenes Stück vom großen Kuchen dieser Ausbeutung zu sichern.

Wo stand Siemens in diesem Prozess? Schauen wir auf

Siemens und die Politik.

Auf Webseiten von Firmen ist selten etwas über Politik zu lesen. So auch hier. Man macht Geschäfte und redet darüber; die Politik überlässt man anderen.

Wie aber war es beschaffen: das China, mit dem Siemens seine Gewinnerwartungen verband und realisierte?

China war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein heillos zerrissenes Land. Die jahrtausendealte Herrschaft des Kaiserhauses war in ein nicht mehr aufzuhaltendes Siechtum übergegangen, das Land wurde beherrscht von regionalen Warlords – von Militärherrschern, die sich gegenseitig bekämpften, aber, da sie über Rohstoffe und Naturprodukte verfügten und auch über viele Millionen Arbeitskräfte, die bei der Bereitstellung derselben nahezu grenzenlos ausgebeutet werden konnten, auch Kaufabsichten geltend zu machen in der Lage waren: Kaufabsichten – und zwar nicht zu knapp –, die sich besonders auf Waffen, aber auch auf technisches Gerät anderer Art und in zunehmendem Maße sogar auf ganze Industrieanlagen konzentrierten.

Aus dieser Konstellation Gewinn zu ziehen, hatten sich als Pioniere auch des deutschen Chinahandels jene Handelshäuser etabliert, von denen weiter vorn schon kurz die Rede war. Sie waren mit der langen Tradition des hochentwickelten chinesischen Handelsgebarens vertraut, wussten um die Erfahrungen der chinesischen Groß- und Kleinhändler und verstanden es, mit ihrer weitreichenden Vernetzung und der Beschäftigung auch chinesischen Personals die Interessen der jeweiligen Landesherrscher und chinesischen Unternehmen am Außenhandel zu kanalisieren und zu koordinieren. Genannt seien hier etwa Carlowitz & Co. aus Hamburg mit Niederlassung in Shanghai und Filialen in Hankou, Tianjin, Beijing, Guangzhou, Hongkong, Taiyuan, Qingdao, Jinan und Nanjing; Glathe & Witt in Shanghai mit Filialen in Chongqing, Kunming und Nanjing; Jebsen & Co. in Guangzhou mit Filialen in Shanghai, Hongkong und Tianjin; Kunst & Albers aus Hamburg mit Sitz in Shanghai und Filialen in Nanjing, Hankou, Guangzhou, Tianjin, Hongkong und Taiyuan, Melchers & Co. aus Bremen; Siemssen & Co. in Shanghai mit Filialen in Tianjin, Taiyuan, Qingdao, Hankou, Hongkong und Guangzhou.

Zieht man die Größe Chinas und die großen Entfernungen zwischen den hier genannten Städten in Betracht – von Beijing im mittleren Norden bis nach Guangzhou an der Südküste sind es mehr als 2.000, bis nach Shanghai an der Ostküste mehr als 1.000 Kilometer, von Shanghai bis nach Hankou am Mittellauf des Yangzi-Flusses ebenfalls um die 1.000 Kilometer –, so wird deutlich, dass der Handel je nach Region unterschiedlich von den häufigen politischen Unruhen betroffen war.

Auch so ein Großereignis wie die als Boxeraufstand bekannt gewordene Erhebung gegen die koloniale Unterdrückung 1899/1900, die 1900/1901 durch Truppen einer imperialistischen Achterallianz aus Japan, Russland, Italien, Frankreich, USA, Deutschland, Österreich-Ungarn und Großbritannien im Zusammenspiel mit chinesischen Militärherrschern blutig niedergeschlagen wurde, hat, weil es auf die Region um Beijing und Nordostchina begrenzt blieb, die südlicheren Landesteile nicht berührt. Der Handel in den großen Hafenstädten Shanghai und Guangzhou ging weiter.

Eine Siemens-Reaktion auf diesen Krieg im Norden ist mir leider nicht bekannt, aber Siemens kann nicht unbeeindruckt geblieben sein, denn es war dieser Krieg nicht nur für die chinesische Geschichte als denkbar größte Demütigung durch den Westen von Bedeutung, sondern auch für Deutschland, das mit seinem Eingreifen sein Streben nach Weltgeltung zu untermauern suchte, weshalb die deutschen Truppen, nachdem die Aufständischen schon besiegt waren, schlimmste Gräueltaten und Brandschatzungen begingen und etwa im Beijinger Sommerpalast zahllose Schätze der alten chinesischen Kultur zerstörten. Am 27. Juli 1900 hatte Kaiser Wilhelm II. die deutschen Truppen in Bremerhaven mit einer Rede verabschiedet, die als „Hunnenrede“ in die Geschichte einging und die Sätze enthält: „Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen“ (Wikipedia, Eintrag Boxeraufstand, Aufruf 16.09.2024).

Wie haben Siemens-Angehörige in China diese Zeit erlebt? Und wie des Kaisers markige Schmähungen aufgenommen und sich den Chinesinnen und Chinesen gegenüber verhalten? Sollte jemand eine Information in dieser Richtung parat haben, nehme ich sie dankbar entgegen.

Auf der Website Siemens in China geht es mit dem puren Geschäft weiter. Nach dem ersten Weltkrieg – so lesen wir –, in dem der Umsatz von über vier Millionen Mark auf eine halbe Million Mark fiel, erlebte Siemens China Co. – so seit 1914 der offizielle Name der Shanghaier Niederlassung – „besonders in den 1920er und 1930er Jahren […] einen rasanten Aufstieg. Großaufträge zum Bau von Elektrizitätswerken in Shanghai, Harbin, Nanjing und Guangzhou“ ließen die chinesische Geschäftsstelle „zur größten des Unternehmens außerhalb Europas“ anwachsen. Bereits 1925 – so erfahren wir weiter – umfasste die Landesgesellschaft zehn Unterbüros und elf Agenturen. Von 1921 bis 1937 baute Siemens Fernsprechanlagen für die Städte Jinan, Kaifeng, Beijing, Tianjin, Hankou, Changchun, Nanning und Guilin. 1937 wurde in Hongkong eine Montagefertigung für 20.000 Feldtelefone errichtet. Anfang der 1930er Jahre lieferte Siemens der Stadt Suzhou ein Kraftwerk zur Stromversorgung mit einem innovativen Dampfturbinentyp, der Siemens-Röder-Turbine.

Soweit diese Bilanz. Die politischen Verhältnisse in China waren indes nicht stabiler geworden. Mit der Revolution von 1911 war die Kaiserherrschaft zu einem Ende gebracht, aber an ihre Stelle war keine neue Zentralmacht getreten. Die Kriege der Warlords gegeneinander gingen weiter, und von Norden her drang Japan in zunächst kleinen Schritten auf chinesisches Territorium vor. Mit der vom Revolutionsführer Sun Yatsen gegründeten Guomindang trat eine Partei auf den Plan, die im Kampf gegen diese inneren und äußeren Kräfte der Zerreißung die Einheit des Landes anstrebte, und ihr stellte sich die 1921 gegründete Gongchandang, die Kommunistische Partei, an die Seite, die sich ebenfalls die Einheit des Landes auf ihre Fahnen geschrieben hatte, dies aber nicht nur mit der Zerschlagung der Macht der Warlords und der Zurückdrängung Japans verband, sondern auch mit der Beendigung der kolonialen Ausbeutung durch die Westmächte überhaupt, weshalb die Guomindang-Führung unter dem Nachfolger des 1925 verstorbenen Sun Yatsen, Jiang Jieshi (Tschiang Kaischek), im April 1927 die Zusammenarbeit mit der Gongchandang in der Revolution 1925-27 in einem Blutbad ertränkte.

So war es beschaffen, das Umfeld des

rasanten Aufstiegs,

von dem die Siemens-Website zu berichten weiß.

Und in der Tat verhielt sich Siemens geschickt und zielbewusst. Lassen wir wieder den schon erwähnten Historiker Jürgen Osterhammel zu Wort kommen, diesmal in seinem schon 1989 in München erschienenen Buch China und die Weltgesellschaft. Vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit. Dort reflektiert er die Situation nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, die auch mit dem Verlust der seit 1897 errichteten deutschen „Musterkolonie“ Jiaozhou (Kiaotschou) in der Provinz Shandong am Ostchinesischen Meer einherging, wie folgt: „Die großen deutschen Chinafirmen wie Carlowitz & Co., Siemssen & Co., Melchers & Co. hatten ebenso wie Krupp, Siemens oder die Farbenhersteller ihre Aktivitäten ohnehin nie auf die nordostchinesische Interessensphäre konzentriert oder gar ausschließlich auf sie beschränkt. Sie konnten deshalb in den zwanziger Jahren […] Geschäftskontakte nahezu im ganzen Lande reaktivieren.“ (S. 278)

Bei einer einfachen „Reaktivierung“ blieb es aber nicht. Siemens – von Osterhammel ja nicht zufällig zu den größten deutschen Chinaplayern gezählt – entwickelte sich zu einem Konzern, der immer stärker eigene Marktbeherrschungspläne entwickelte, sein eigenes Netz an Filialen aufbaute und sich zunehmend von den Handelshäusern unabhängig machte. Ähnlich der IG Farben – im Osterhammel-Zitat ist von „den Farbenherstellern“ die Rede – entwickelte der Konzern die Grundlagen dafür in der Zentrale in Deutschland, und zwar nicht nur bei den Produktionskapazitäten und strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen, sondern auch in Form einer gezielten Einflussnahme auf die deutsche Politik. Ihren Höhepunkt wird diese Einflussnahme in der Zeit des deutschen Faschismus erreichen, als Siemens und die IG Farben zu den entscheidenden Unterstützern des deutsch-japanischen Aggressionsbündnisses werden.

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre deutet sich das an, und zwar aus Gründen, die erst in zweiter Linie mit den handelnden Personen zu tun haben und in erster Linie ganz an der Basis, in den ökonomischen Interessen, zu finden sind.

Der deutsche Warenexport hatte Ende der 1920er Jahre noch immer nicht sein Vorkriegsvolumen wieder erreicht. Auf der Suche nach Wegen, aus diesem Dilemma herauszukommen, hatte der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) in seinen Auslandsberichten unter allen Auslandsmärkten dem chinesischen die „mit Abstand […] größte Aufmerksamkeit“ gewidmet. In den Jahren 1927-1929 erfuhren die Exporte deutscher Fertigwaren nach China eine Steigerung um über 50 Prozent, der deutsch-chinesische Handel insgesamt wuchs um über 40 Prozent (vgl. Burkhard Schmidt, Die China-Studienkommission des „Reichsverbandes der Deutschen Industrie“ im Jahre 1930, in: Kuo Heng-yü, Mechthild Leutner [Hg.], Beiträge zu den deutsch-chinesischen Beziehungen. Berliner China-Studien 12, München 1986,S. 67-90, hier: S. 67).

Interessant in unserem Zusammenhang ist nun, dass die deutsche Großindustrie mit der IG Farben und Siemens an der Spitze in den noch immer ungeklärten politischen Verhältnissen in China ziemlich entschlossen auf die von Jiang Jieshi straff geführte, in Nanjing sitzende Guomindang-Regierung und das von ihr beherrschte Territorium in Mittel-, Süd- und Südostchina mit den großen Hafenstädten Shanghai und Guangzhou setzte und dabei auch Jiangs Bereitschaft, sich mit deutschen Militär-, Wirtschafts- und Verwaltungsberatern zu umgeben – der erzreaktionäre Kapp-Putsch-Teilnehmer Oberst Max Bauer machte Ende 1927 den Anfang, Dutzende weitere würden folgen – in Rechnung stellte. Während dem Auswärtigen Amt noch daran gelegen war, zwischen Jiang Jieshi und den vor allem im Norden noch mächtigen Kriegsherren Neutralität zu waren und die Handelshäuser diesen Kurs stützten, weil sie überall ihre Niederlassungen hatten und das Interesse an deutschen Waren bei den Warlords ebenso groß war wie bei der Guomindang-Regierung, drängten die Großunternehmen auf größere Planungssicherheit und komplexere Gesamtbeziehungen.

1928 führte das zu einem ersten Ergebnis: Im August kam es zu einem Handelsabkommen zwischen Berlin und der Nanjing-Regierung, was einer de-facto-Anerkennung dieser Regierung gleichkam. Und 1930 entsandte der RDI eine Studienkommission nach China, um die Möglichkeiten künftiger Zusammenarbeit komplex auszuloten. Zwei Dinge sind dabei wiederum von besonderem Interesse. Erstens: Die IG Farben beteiligte sich nicht an der Kommission, sondern verließ sich schon ganz auf ihr eigenes Marktforschungs-, Vertriebs- und Informationsnetz in China. Und Siemens war zwar an der Teilnahme interessiert, kam aber nicht zum Zuge, weil Konkurrent AEG ebenfalls teilnehmen wollte, aber eine Doppelrepräsentanz der Elektroindustrie nicht gewünscht war und der Platz daher als Kompromisslösung vom Elektrotechnikprofessor Dettmar aus Hannover eingenommen wurde.

Beteiligt war Siemens dann aber direkt an der im Januar 1931 erfolgenden Gründung der China-Studien-Gesellschaft für deutsch-chinesische wirtschaftliche Zusammenarbeit (vgl. Schmidt, a. a. O., S. 78). Mit ihr sollte das Wissen über die chinesischen Verhältnisse und die aus ihnen sich ergebenden Chancen für die deutsche Großindustrie gebündelt und als Grundlage für Handlungsvorschläge entwickelt werden.

Die Gesellschaft für sich genommen war kein besonders großer Wurf, aber ein Baustein auf dem Weg zu einer immer enger werdenden Verflechtung der Expansionsinteressen des deutschen Monopolkapitals mit denen der politischen Führung Deutschlands, die ab dem 30. Januar 1933 eine faschistische war.

Am 23. August 1934 wurde von dem „privaten“ Militär- und Regierungsberater Hans Klein und dem chinesischen Finanzminister Kong Xiangxi (H. H. Kong) ein Warenaustauschvertrag mit einem Volumen von 100 Mio. Reichsmark vereinbart. Dieser Vertrag ist als HAPRO-Vertrag in die Geschichte eingegangen. Mit ihm fanden die großen China-Player die Planungssicherheit, die sie suchten.

Aber was war das für ein Vertrag? Warum diese seltsame Konstellation bei seiner Unterzeichnung?

Die Beantwortung dieser Fragen hilft uns, die außergewöhnliche Lage in diesen 1930er Jahren zu verstehen. Beide Partner handelten unter mehrfachen Zwängen. Adolf Hitler hatte das Vertrauen und die Unterstützung der Großindustrie in entscheidender Weise dadurch gewonnen, dass er die Grenzen, die Deutschland durch den Versailler Vertrag in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht gesetzt waren, niederzureißen versprach, aber dieses Niederreißen musste, wenn es keine wirksamen Reaktionen der Westmächte provozieren sollte, verdeckt geschehen. Also wurde der Vertrag mit China sehr niedrig gehängt und weitgehend geheim gehalten. Die chinesische Seite ihrerseits agierte unter einer Bedrängnis ganz anderer Art. Zwar hatte sie ihre Herrschaft im Innern stabilisieren können, aber im November 1931 hatte Japan in einer vom Westen nur sehr sanft in Frage gestellten Weise die Mandschurei – also das rohstoffreiche und relativ stark industrialisierte Nordostchina – okkupiert, dort seinen Marionettenstaat Manzhouguo errichtet und damit das Territorium Chinas erheblich verkleinert, und selbstverständlich beobachtete das auf weitere Territorialgewinne zielende Japan den chinesischen Handel mit Deutschland mit größtem Argwohn.

Aber der Vertrag hatte eine politisch-ideologische Dimension, die ihm trotz der schwierigen Bedingungen Kraft verlieh. Jiang Jieshi und etliche führende Guomindangfunktionäre hegten eine starke Sympathie für Hitler und der NSDAP, bewunderten die zentralistische Führung der Gesellschaft und Wirtschaft und folgten zudem der einst von Sun Yatsen entwickelten Idee eines Kontinentalblocks Deutschland-Russland/Sowjetunion-China zur Überwindung des Einflusses der überseeischen Kolonialmächte und Japans.

Der HAPRO-Vertrag erwies sich als Erfolg für alle großen deutschen Chinaplayer, als da neben Siemens – genauer: der Siemens-Schuckert-Werke AG – im Einzelnen waren: von der „Monopolgruppe Kohle-Eisen-Stahl der Otto-Wolff-Konzern, die Ferrostaal AG (Essen), die Friedrich Krupp AG (Essen) und die in der Stahlunion Export GmbH (Düsseldorf) zusammengeschlossenen Aktiengesellschaften August-Thyssen-Hütte, Bochumer Verein für Gussstahlfabrikation AG und Deutsche Maschinenfabrik AG Duisburg (Demag)“; von den „Monopolgruppen der chemischen und der Elektroindustrie sowie der optisch-feinmechanischen Industrie […] die IG Farbenindustrie AG, die AEG […] und Carl-Zeiss-Jena“; vom Kraftfahrzeugbau die „Daimler-Benz AG, MAN, Henschel und die Büssing-NAG“, des weiteren „Rheinmetall-Borsig, die Mauser AG und die Junkers-Werke“ (Das Bündnis der Rivalen. Der Pakt Berlin-Tokio. Neue Dokumente zur Ost- und Südostasienpolitik des faschistischen deutschen Imperialismus im zweiten Weltkrieg, hgg. und eingeleitet von Karl Dechsler, Berlin/DDR 1978, S. 11).

Der Chinahandel wurde ganz in den Dienst der rasant Fahrt aufnehmenden Kriegsvorbereitungen gestellt. Ungefähr 20 Prozent des Imports aus China bestanden aus für die Rüstungsindustrie strategisch wichtigen Rohstoffen wie Wolfram, Antimon, Nickel, Molybdän, Mangan und Titan, zudem wurden Ölsaaten, Eiprodukte, Wolle und Baumwolle eingeführt (vgl. ebenda), und an die Importe waren wachsende Exportchancen geknüpft.

Dann aber schloss Deutschland mit Japan im November 1936 den Anti-Komintern-Pakt, begründete damit das für den zweiten Weltkrieg ursächliche Aggressionsbündnis, und das musste sich zwangsläufig gegen China richten – umso mehr, als Japan am 7. Juli 1937 zur umfassenden Aggression gegen China überging und auf breiter Front ins Landesinnere vorstieß.

Dieses Dilemma lösten Siemens und andere für sich, indem sie sich den

Großostasienplänen

der faschistischen Führung anschlossen. Mit anderen Worten: Es war ihnen egal, ob in China die Guomindang-Regierung unter Jiang Jieshi herrschte oder ein japanisches Besatzungsregime oder die eine oder andere von den Japanern eingesetzte Marionettenregierung – entscheidend war ganz allein der Profit.

Am Ende erwies sich dieses Kalkül als völlig falsch. Auch für den Siemens-Konzern, der gemeinsam mit der IG Farben und Carl Zeiss Jena in den Auseinandersetzungen in der faschistischen Führung 1937/38 um den günstigsten Zeitpunkt für den Beginn des Krieges nachdrücklich auf das Bündnis mit Japan und die damit verbundene Hoffnung auf eine zweite Front gegen die Sowjetunion gesetzt und damit für ein möglichst frühes Losschlagen plädiert hatte, während die Schwerindustrie eine längere Vorbereitungszeit für notwendig hielt, weil der 1939 bzw. 1941 erreichte Stand der Aufrüstung als noch unzureichend für den Erfolg betrachtet wurde – auch für den Siemens-Konzern also erwies sich das Kalkül als falsch, weil Japan erstens in den von ihm eroberten Territorien keineswegs bereit war, mit dem deutschen Bündnispartner in der von diesem gewünschten Weise zu teilen, und zweitens diese Territorien rasch wieder verlor und am 2. September 1945 Deutschland in der Niederlage folgte und selbst kapitulieren musste.

Schauen wir, was wir in Dokumenten zu Siemens im Krieg in China finden:

Die deutsche Ausfuhr nach China, die 1937 148,3 Mio. Reichsmark umfasst hatte, sank 1938 auf 104,8, 1939 auf 53,1, 1940 auf 22,3 und 1941 auf 7,8 Mio. Reichsmark, die Einfuhr stieg von 1937 93,8 Mio. Reichsmark 1938 kurz auf 106,6, fiel dann aber ebenso rasch auf 1939 57,3, 1940 16,7 und über einen kleinen Anstieg von 1941 23,1 auf 1942 14,2 Mio. Reichsmark (Deutschland und China 1937-1949. Politik – Militär – Wirtschaft – Kultur. Eine Quellensammlung, hgg. von Mechthild Leutner, bearb. von Wolfram Adolphi und Peter Merker, Berlin 1998, S. 255). Siemens begann wie Krupp, Wolff und andere deutsche Firmen, die sich 1935 in einem Konsortium zum Bau von Eisenbahnen für die Guomindang-Regierung zusammengeschlossen hatten, seine „mit chinesischen Instanzen abgeschlossenen Kredit- und Lieferverträge abzuwickeln“ (ebd.).

Am 30. März 1944 trug der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Handelskammer und des Deutschen Wirtschaftsverbandes in Shanghai, Dr. G. Probst von Siemens China Co., anstelle des erkrankten Vorsitzenden Carl Gadow die Jahresbilanz 1943 vor, in der es hieß:

„In allgemeinen wirtschaftspolitischen Ereignissen, die uns schon näher angehen, registrieren wir vor allem den Eckstein der zukünftigen deutsch-japanischen Wirtschaftsbeziehungen, der so umfassend gesetzt worden ist, um auch weiteren ‚Ostasien-Großraum‘-Entwicklungen Rechnung zu tragen; ich meine: die deutsch-japanischen Wirtschaftsverträge, die am 20. Januar 1943 durch Herrn Staatsrat Wohlthat in Tokio abgeschlossen wurden, gleichzeitig mit einem dazugehörigen und in Berlin gezeichneten Rahmenabkommen zwischen unserem Reichsaußenminister und Botschafter Oshima. Als erste unmittelbare Auswirkung dieser neuen Abmachungen trat am 8. Juni 1943 das deutsch-japanische Banken-Abkommen in Kraft, in dessen Folge kurz danach die Tokio-Filiale der ‚Deutschen Bank für Ostasien‘ ihre Tätigkeit aufnahm. […] Diese in Tokio abgeschlossenen Wirtschaftsverträge erfordern unsere ernste Aufmerksamkeit; ihre Auswirkung auf China ist heute noch nicht abzusehen; sie lassen jedoch bereits die Bedeutung erkennen, welche einem japanischen ‚Führungsanspruch‘ auch im Wirtschafts-Sektor für die bisherigen deutschen wirtschaftlichen Belange innewohnt“ (ebd., S. 308f).

Am 31. Juli 1944 informierte Generalkonsul Martin Fischer in Shanghai den japanischen Generalkonsul Yano Shotaro auf dessen Bitte hin über Möglichkeiten deutscher Firmen in China, die japanische Kriegsproduktion zu unterstützen. In seinem Schreiben hieß es: „Ich möchte erwähnen, dass sich Ansätze zu praktischer Zusammenarbeit bereits in verschiedenen Fällen und Gegenden Chinas gezeigt haben, so z. B. in Shanghai: bei der Zusammenarbeit der Siemens China Co. mit dem Hauptquartier in Nanjing [im besetzten China bei der Marionettenregierung – W. A.]“ (ebd., S. 313).

Am 23. Mai 1945 – zwei Wochen nach der Kapitulation Deutschlands, in der das weiter im Krieg befindliche Japan einen Bruch der Bündnisverpflichtungen sah – berichtete der Leiter der Dienststelle Peking der Deutschen Botschaft, Felix Altenburg, der Deutschen Botschaft Nanking über „Maßnahmen der japanischen Gendarmerie gegen die Deutschen“. Darin hieß es u. a.:

„Der hiesigen Vertretung der Siemens China Co. wurde […] das Lagerhaus versiegelt. Am nächsten Tag wurden die Siegel zwar wieder entfernt, es wurde der Firma dabei jedoch mündlich das Verbot bekanntgegeben, irgendwelche weiteren Verkäufe vorzunehmen. […] Wie ich höre, unterhält die Firma augenblicklich ein größeres Lager in Peking, vor allem von Motoren, die vor kurzer Zeit mit japanischer Erlaubnis nach Peking transportiert worden sind, da man eine Einschränkung des Frachtverkehrs befürchtete. Es liegen Anzeichen dafür vor, dass die japanischen Behörden es besonders auf diese Motoren abgesehen haben“ (ebd., S. 449f.).

Zum Abschluss meines Vortrages richte ich Ihre Aufmerksamkeit auf den Dezember des Jahres 1937 und die ersten Monate des Jahres 1938 in Nanjing. Es war dies die Zeit eines der größten Massaker im Zweiten Weltkrieg, verübt von den japanischen Truppen an der chinesischen Zivilbevölkerung und waffenlosen chinesischen Soldaten. 250.000 bis 300.000 Menschen wurden in diesen Wochen umgebracht.

Diese letzte meiner Momentaufnahmen ist also eine von

Siemens aus anderer Perspektive.

Legationssekretär Georg Rosen von der deutschen Botschaft in China berichtete dem Auswärtigen Amt in Berlin von Shanghai aus am 24. Dezember 1937:

„Nachdem der Herr Botschafter mit dem größeren Teil seines Stabes und fast allen Nanjinger Deutschen am 22. November d. J. Nanjing verlassen hatte, blieb die Lage dort zunächst noch ruhig. Die Tätigkeit der japanischen Flieger ließ sogar eine Weile etwas nach, um dann wieder zuzunehmen. Unter den in Nanjing verbliebenen Ausländern entstand eine Bewegung, nach dem Vorbild einer bereits bei den Kämpfen um den Stadtteil Nandao von Shanghai erfolgreich bewährten Übung, auch in Nanjing eine Sicherheitszone für die Zivilbevölkerung zu schaffen. Es bildete sich ein Komitee, welches aus seiner Mitte Herrn John D. Rabe, den Vertreter von Siemens China Co. in Nanjing, zu seinem Vorsitzenden wählte. Herr Rabe hat sich unter Zurückstellung aller persönlichen Interessen und Bedenken seinem humanitären Werk gewidmet und sogar durch ein Telegramm an den Führer und Reichskanzler – Herr Rabe ist Amtswalter der Ortsgruppe Nanking der NSDAP – seinen Plan bei den Japanern durchzusetzen versucht, was bei den amerikanischen und englischen Mitgliedern des Komitees mit Dank und Anerkennung für Deutschland begrüßt wurde.

Ursprünglich sollte das Komitee den Gedanken einer Sicherheitszone bei den kämpfenden Parteien durchsetzen, um sodann die praktische Durchführung des Planes den chinesischen Stellen zu überlassen. Infolge des Fehlens jeglicher Zivilcourage bei den hierfür in Frage kommenden Chinesen, die sämtlich die Flucht nach Hankou dem Verbleiben in der Hauptstadt vorzogen, musste das Komitee schließlich die Sicherheitszone selbst verwalten, so dass Herr Rabe praktisch die Rolle eines Bürgermeisters spielte. Ihm zur Seite standen die Reichsangehörigen Christian Kröger (Carlowitz & Co.) und Eduard Sperling sowie mehrere amerikanische Ärzte und Professoren aus Missionskreisen, zu denen sich chinesische Helfer aus verschiedenen christlichen und anderen Wohlfahrtsorganisationen gesellten.“ (Ebd., S. 174f.)

John Rabe hat über seinen Einsatz Tagebuch geführt, dessen erste Passagen im März 1938 im Ostasiatischen Beobachter Nr. 7/1938, S. 50-52 abgedruckt wurden. Siegfried Lahrmann, Leiter der Landesgruppe China der NSDAP, verfasste dazu ein Vorwort, in dem er u. a. schrieb: „Ich habe schon früher darauf hingewiesen, dass der Zusammenstoß zwischen Japan und China die in China ansässigen Deutschen in eine äußerst schwierige Lage gebracht hat. […] Der Führer hat erneut am 20. Februar vor dem Reichstag erklärt, dass wir in dem Konflikt unbedingt neutral sind. […] In China fühlen wir mit den ungeheuren Leiden unseres Gastvolkes. Umsomehr ist es uns eine Genugtuung, dass Deutsche hier und dort, in rein menschlicher und neutraler Weise, durch zeitiges Eingreifen die Leiden lindern konnten und so sich für die lang gewährte Gastfreundschaft des chinesischen Volkes erkenntlich zeigen. […] Allergrößte Anerkennung verdient […] vor allem der rücksichtslose Einsatz Pg. John Rabes in Nanjing, ebenso wie seiner Mitkämpfer Pg. Christian Kröger und Vg. Eduard Sperling. Ungerufen haben diese drei Männer sich für die Armen der Ärmsten der Bevölkerung Nanjings, die nicht die Mittel hatten, zeitig zu fliehen, eingesetzt, - dabei ihr eigenes Leben nicht achtend.“ (ebd., S. 178)

Der Abdruck des Tagesbuches im Ostasiatischen Beobachter wurde nicht fortgesetzt. Die Annahme Lahrmanns, dass Deutschland in diesem Krieg tatsächlich neutral sein würde und Hitler am 20. Februar also die Wahrheit gesagt haben könnte, entbehrte jeder Grundlage. Am 18. Juni 1938 wies der Chef der Auslandsorganisation der NSDAP, Ernst Wilhelm Bohle, Siegfried Lahrmann an, „die Japan-Politik des Führers zu unterstützen, so sehr menschliches Verständnis für die wirtschaftlichen Schädigungen hier besteht, die unsere deutschen Kaufleute durch den Krieg erleiden.“ Und weiter: „Persönliche Sympathien gegenüber den Chinesen und materielle Verluste unserer Volksgenossen dürfen aber unter gar keinen Umständen vor die Bedürfnisse der großen Politik gestellt werden. […] Es darf unter gar keinen Umständen auch nur der leiseste Eindruck bei Japanern und Chinesen entstehen, dass unsere Chinadeutschen eine andere Auffassung als das Reich vertreten, weil das Entstehen eines solchen Eindrucks eine moralische Unterstützung der Chinesen bedeutet, die im Interesse des Reiches unerwünscht und unbedingt schädlich ist.“ (ebd., S. 406)

Hier endet mein Vortrag.

Ich würde mich freuen, wenn Ihnen meine Momentaufnahmen im Kopf bleiben, wenn Sie über den Weltkonzern Siemens der Gegenwart nachdenken.

Anmerkung: Die Schreibweise der chinesischen Eigennamen erfolgt in der heute üblichen Pinyin-Umschrift. Zuweilen ist in Klammern die alte Schreibweise angefügt. Bei Sun Yatsen und Hongkong ist nur die alte Schreibweise verwendet.