Über Asiaticus: Adolphi 2004: Auszug aus dem Roman „Chinafieber“, Kap. 18
Aus: "Chinafieber", Kapitel 18
Das Wasser, das Kleinert in den Mund lief, war brackig und lauwarm, er spürte den Schmutz, den es ihm auf die Zunge spülte, und er spürte auch, dass er es so nicht mehr lange aushalten würde. Den Kopf zu heben wagte er aber nicht, denn noch immer pfiffen Kugeln über ihn hinweg, und er war, so misslich sich seine Lage für den Moment auch darstellte, heilfroh, dass er es überhaupt bis zu diesem Graben geschafft hatte. Es musste der Rand eines Reisfeldes sein, den er da gerade noch erreicht hatte, bevor aus dem ersten Schusswechsel richtiges Gefechtsfeuer geworden war. Wer da mit wem kämpfte – Kleinert hatte keine Ahnung, und es interessierte ihn auch nicht, denn er hatte mehr als genug mit sich selbst zu tun. Bewegte er sich nicht, rutschte er immer tiefer hinein in den weichen, nachgiebigen Schlamm, über dem eine dünne Wasserschicht stand, auf der sich – es geschah auf der Höhe seiner Augen, und so hatte er den Eindruck, Zuschauer eines bizarren, die Dinge ins Unwirkliche verzerrenden Schauspiels zu sein – allerlei Laufkäfer tummelten und in der, so wusste er aus Erzählungen, auch an Blutegeln kein Mangel sein dürfte. Bewegte er sich aber, konnte er sicher sein, dass eine der Maschinengewehrgarben, die nach wie vor in dichter Folge das Feld bestrichen, auch für ihn eine Kugel bereit halten würde. Nicht nur den Kopf, sondern auch die Fersen unten halten, hämmerte er sich ein. Die Männer, die von der Front in den Heimaturlaub gekommen waren, damals, in L., hatten, als er mit großen Augen in ihrer Runde sitzen durfte, wilde Geschichten zu erzählen gewusst von den Dummköpfen, die diese Regel missachtet hatten. Nein, die Hacken würden sie nicht treffen bei ihm, die nicht. Aber wenn er den Kopf nicht bald frei bekam, würde es darauf vielleicht auch gar nicht mehr ankommen. Er zog die rechte Hand, die er bisher mit der linken verschränkt schützend über den Kopf gehalten hatte, nach unten, in dem er den Ellbogen tief in den Schlamm bohrte, und versuchte, auf diese Weise eine Stütze zu schaffen, mit der es ihm möglich wurde, das Gesicht zur Seite zu drehen, ohne ein neues Ziel zu bieten. Nun hatte er wenigstens Mund und Nase frei, aber das Gehirn fand keine Ruhe, und die Gedanken überschlugen sich. Hoffentlich hatte er sich mit dem schmutzigen Wasser nicht irgend etwas eingehandelt. Von Hakenwürmern hörte man allweil, die sich in den Dünndarm bohren, und winzigen Pärchenegeln, die sich in der Leber festsetzen konnten und, wenn man den Befall nicht rasch erkannte und schnellstens eine Behandlung einleitete, den Betroffenen in ein langes, qualvolles Siechtum zu schicken in der Lage waren. War nicht Theodor Landmann, der legendäre erste Militärberater, seinerzeit an Pocken zu Grunde gegangen? Irgendwo – wie jetzt auch er – weit draußen auf dem flachen Land, Lichtjahre entfernt von wenigstens halbwegs geregelter Hygiene? Man musste verdammt vorsichtig sein mit solchen Sachen in diesen Gegenden. Aber was nützte sie, diese Vorsicht, wenn plötzlich das Haus, in dem man gerade noch Quartier gehabt hatte, in Flammen stand und man von hastigem Maschinengewehrgebelfer über die Straße gehetzt wurde, nichts anderes mehr im Sinn als das nackte Überleben?
„Kleinert!“ Die Stimme, die ihn rief, klang gepresst, war aber deutlich zu verstehen. „Kleinert, sind Sie da? Leben Sie noch?“
„Ja, ich lebe.“ Kleinert wusste nicht, aus welcher Richtung der Ruf gekommen war, und so gab er einfach nur Laut, wie ein verschrecktes Tier, das einen klagenden Hilferuf aussandte. Ein paar Minuten später vernahm er ein leise platschendes Schleifen und Schlurren, und Hans Shippe kam neben ihn zu liegen, herangerobbt ganz in der Art eines erfahrenen Frontkämpfers.
„Halten Sie aus, Mann, das kann nicht mehr lange dauern, so viel Munition können die gar nicht haben,“ sagte er, und Kleinert hoffte begierig, dass er Recht behalten möge.
Er musste es wissen, dieser Shippe – nach allem, was er ihm, Kleinert, am gestrigen Abend bei einer Schüssel voll Reis und scharfem Kohl erzählt hatte. Es war unklar, woher dieser Mann gekommen war und wo es ihn hin führte – aber egal, er war ihm zum Schutzengel geworden, als die Granaten einschlugen und die Herberge in Brand setzten, und auch jetzt hatte er wieder die Nerven behalten, ihn in all dem Getöse und dem Durcheinander der aufspritzenden Schlammfontänen ausgemacht und einen Weg gefunden, zu ihm zu stoßen. Nie und nimmer, dachte Kleinert, hätte er selbst sich jetzt so um einen anderen kümmern können, wie Shippe es mit ihm getan hatte. Da mochten manche noch so sehr davon überzeugt sein, dass man es trainieren könne – dieses Maß an Kaltblütigkeit, das nötig war, mit solchen plötzlichen Gefahrensituationen fertig zu werden: auf ihn, Kleinert, schien das nicht zuzutreffen. Nanking hatte ihn – er merkte es immer wieder – nicht hart gemacht, hatte ihn nicht geschmiedet, wie es so häufig hieß, sondern seine Nerven eher noch blanker werden lassen.
Aber Shippe hatte die Lage tatsächlich richtig eingeschätzt – so plötzlich, wie das Gefecht los gebrochen war, so unvermittelt kam es auch zu einem Ende. Noch zwei, drei Mal krachten Granaten ins Feld, Schlammklumpen hoch in die Luft schleudernd und todbringende zischende Splitter aussendend – dann war alles vorbei, und nur ein paar von Ferne zu hörende scharf herausgeschrieene Befehle erinnerten daran, dass an der Attacke auch Menschen aus Fleisch und Blut beteiligt gewesen sein mussten. Gesehen hatte Kleinert von denen nichts – er war ihnen so wie die ganze kleine, am Dorfrand liegende Herberge einfach nur ins Schussfeld geraten.
„Was meinen Sie,“ fragte er nun, da sie die Köpfe heben und daran denken konnten, nach einem bequemeren Ort Ausschau zu halten, an dem sie ihre Sachen würden ordnen können, „wer ist da wem in die Quere gekommen?“
„Ich glaube,“ sagte Shippe, „es war ein typischer japanischer Vergeltungsschlag. Es muss wohl gestern irgendwann einen Angriff chinesischer Partisanen gegeben haben, und nun haben sich die Japaner gewehrt. Da kommt es ihnen in aller Regel nicht ungelegen, wenn sie den auf dem Wege liegenden Dörfern gleich ebenfalls eine Lektion erteilen können – zur Abschreckung, wie sie sagen.“
Sie fanden einen kleinen, mit Bambus bestandenen Hügel, und Kleinert spürte, wie plötzlich alle Anspannung von ihm abfiel. Müde streckte er sich im Schatten der leise und friedlich im Winde raschelnden Halme und Blätter auf dem nun harten und trockenen Boden aus, froh, auf dem Rücken liegen zu können und nicht mehr darüber nachdenken zu müssen, ob nicht vielleicht seine Zehenspitzen oder ein zur Lockerung in die Höhe gereckter Arm ein willkommenes Ziel bieten könnten, und es war ihm erst einmal egal, wie er Anzug, Hemd und Schuhe würde trocknen und reinigen können. Shippe indes hatte den Blick schon wieder nach vorn gerichtet.
„Bleiben Sie hier,“ sagte er, „ich laufe ins Dorf zurück und schaue nach, wie wir weiter kommen können. Ich melde mich dann wieder bei Ihnen.“
Kleinert hatte keinen Grund, an der Lauterkeit dieses Mannes zu zweifeln. Zwar hatte sie nichts anderes als ein Zufall zusammen geführt, und ganz gewiss waren keinerlei Verpflichtungen füreinander entstanden, aber die Art, wie sie miteinander umgegangen waren vom ersten Moment ihrer Begegnung an, gab Kleinert das sichere Gefühl, sich ganz in die Hände des Anderen geben zu können.
Wie verrückt die Dinge immer wieder liefen, dachte Kleinert. Da hatte er auf seiner Reise nun wahrlich schon mit vielen überraschenden Wendungen zu tun gehabt, aber das Arsenal war offenbar noch lange nicht aufgebraucht.
Im beglückenden Gefühl ihrer erneut bestätigten Freundschaft hatte er sich von Hsü Tao Lin verabschiedet. Lange noch hatten sie nach dem Spaziergang, mit dem sie das Zusammentreffen mit Jobst v. Tryck zu Senz beschlossen hatten, zu zweit in Hsüs Wohnung zusammen gesessen, und mit der gleichen freundlichen Beharrlichkeit, mit der ihn Hsü einst in Berlin davon überzeugt hatte, dass es sich lohnen würde, etwas für die deutsch-chinesischen Beziehungen zu tun, war er auch jetzt wieder in ihn gedrungen, um ihn zu bestärken, Tschiang Kai Schek mit größter Offenheit die Ergebnisse seiner Pekinger Gespräche zu unterbreiten. Auf keinen Fall, so hatte Hsü ihn beschworen, dürfe er sich davon beeindrucken lassen, dass es in Hankou und später in Tschungking eine Menge Leute geben werde, die den Marschall in ganz anderer Richtung zu beeinflussen versuchen würden, als dass aus ihrer beider Sicht notwendig sei.
„Tryck hat doch Recht,“ hatte er gesagt, „natürlich gibt es in der Kuomintang-Spitze Etliche, die lieber heute als morgen zu einem Ausgleich mit den Japanern kommen wollen und selbstverständlich auch bereit sind, dafür die Kommunisten über die Klinge springen zu lassen. Und diese Etlichen werden jeden Erfolg der Japaner – und die Einnahme Hankous wird ja noch einmal ein sehr großer sein – natürlich dazu nutzen, ihr Druckpotential zu erhöhen. Aber ich kann vor einem solchen Kurs nur immer wieder warnen. So erfolgversprechend er für den Moment aussehen mag – auf lange Sicht führt er in die Sackgasse, denn der Widerstandswille im Volk ist nicht mehr zu brechen. Egal, was man sich in diesen oder jenen Regierungskreisen auch immer einreden mag. Bitte, lieber Paul, seien Sie mutig! Der Marschall gibt viel auf Ihre Meinung, sonst hätte er Sie nicht hier herauf geschickt!“
Und völlig einig waren sie sich auch gewesen, dass es von größter Wichtigkeit sein würde, welche Signale Tschiang Kai Schek aus Tschungking senden würde.
„Die großen Modernisierungsprogramme,“ hatte Hsü gesagt, „von denen der Marschall schon in Nanking immer wieder gesprochen hat – sie müssen nun von Tschungking aus in Gang gesetzt werden. Die Japaner haben einen großen Teil Chinas besetzt – aber das verbliebene freie Land ist trotzdem immer noch groß genug, um lebensfähig zu sein, und wenn man alle Kräfte konzentriert, kann man hier Zeichen des wirtschaftlichen Aufbaus und der Entwicklung der Landwirtschaft setzen, die auch auf den Widerstand in den besetzten Gebieten ausstrahlen.“
Und weil ihm Kleinert offensichtlich noch nicht enthusiastisch genug erschienen war, hatte er ihn auch bei seinem Ego zu packen versucht: „Bringen Sie Ihre alten Pläne zum Staats- und Wirtschaftsaufbau wieder ins Spiel, Paul! Jetzt können Sie das tun, was Theodor Landmann Ende der zwanziger Jahre getan hat: Sie können Pionierarbeit leisten!“
Mit diesen Worten im Ohr war Kleinert in Peking in den Zug gestiegen, aber schon nach ein paar Dutzend Kilometern, auf einem Kleinstadtbahnhof nicht weit hinter Paoting, war die Fahrt zu Ende gewesen. Als Ursache hatte sich schnell das Übliche heraus gestellt: Freischärler hatten die Geleise gesprengt, an eine Weiterreise auf der Schiene war in absehbarer Zeit nicht zu denken.
Kleinert war aus dem Zug gesprungen und hatte Umschau gehalten, an wen er sich bei der Suche nach einer anderen Fortbewegungsmöglichkeit würde halten können, und sein Blick war auf einen lang aufgeschossenen, hageren Europäer gefallen, der mit sicherem Schritt einem Fuhrhof zustrebte, auf dem einige schon etwas mitgenommene, aber offensichtlich fahrtüchtige Lastkraftwagen geparkt waren. Die Kleidung des Mannes hatte verraten, dass er nicht aus einem der üblichen ausländischen Büros oder Handelskontore zu kommen schien. Der in der Taille mit einem ledernen Gürtel geraffte Anzug aus dunkelgrünem Baumwollstoff ähnelte einer chinesischen Kampfuniform, auch die Schirmmütze entstammte diesem Arsenal, und die aus derbem Leinen gefertigte, ebenfalls dunkelgrüne Kartentasche, die ihm, von einem Schulterriemen getragen und durch den Gürtel gebändigt, an der linken Hüfte hing, verlieh ihm das Aussehen von einem, der es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen und Befehle zu geben. Kleinert war ihm nach gegangen, und als der Fremde sich mit einigen energischen Rufen in chinesischer Sprache am Tor des Fuhrhofes bemerkbar gemacht hatte, war er an ihn heran getreten.
Die Reaktion des Mannes war zunächst alles andere als freundlich gewesen. Kleinert, unsicher, in welcher Sprache er ihn anreden sollte, hatte sich für das Englische entschieden, und sein Gegenüber hatte dann auch in dieser Sprache geantwortet, aber es war ihm deutlich anzumerken gewesen, dass ihm die Begegnung Unbehagen bereitete. Mit knappen, unwirschen Antworten und Gesten hatte er zu verstehen gegeben, dass ihm an Gesellschaft nicht gelegen war. Erst als Kleinert sich umgewandt und in seiner Enttäuschung einen kräftigen deutschen Fluch ausgestoßen hatte, hatte er plötzlich doch noch die Aufmerksamkeit des Anderen gefunden.
„Sie sind Deutscher?“, hatte der Fremde in akzentfreiem Deutsch gefragt und hinzugefügt: „Das hat man nicht so oft, dass sich jemand aus diesen Landstrichen hier alleine durch die Gegend schlägt.“
Sie hatten dann gemeinsam einen Platz auf der Ladefläche eines Lastkraftwagens ergattert, und immer dann, wenn es ein wenig gemächlicher voran gegangen war und sie nicht alle Kraft hatten darauf verschwenden müssen, sich gegen die Planken zu stemmen, um im Wechsel von Schlaglöchern und aus dem Wege heraus ragenden Feldsteinen nicht wild herum geschleudert zu werden, hatten sie sich im Gespräch wieder ein Stück weiter aneinander herangetastet. Das hatte, weil der Fremde sein Misstrauen wie einen schützenden Mantel um sich gezogen hatte, viel länger gedauert, als es Kleinert gewohnt war, aber als sie nach ein paar Stunden holpernder Fahrt mit schmerzenden Knochen und staubverklebten Gesichtern von der Ladefläche gestiegen waren und in jenem kleinen Gasthof Quartier gefunden hatten, der ihnen am nächsten Morgen fast zur Todesfalle geworden wäre, war das Eis dann doch gebrochen gewesen.
Trotzdem, dachte Kleinert jetzt, da er im Rascheln der Bambushalme und im Zirpen der Zikaden vor sich hin dämmerte – ganz genau wusste er immer noch nicht, wer der Andere wirklich war. Aber was spielte das schon für eine Rolle. Er hatte ihm das Leben gerettet, würde sich auch jetzt um ihrer beider Fortkommen kümmern, und wen interessierte da schon, ob ein Name der richtige war oder nicht und wo auch immer da einer zu Hause war.
Denn es war schon erstaunlich mit diesem Hans Shippe, als der er sich vorgestellt hatte. Aus Australien komme er, hatte er gesagt, und tatsächlich hatte in seinem Englisch, mit dem ihr Kontakt seinen Anfang genommen hatte, jener breite, langgezogene ai-Laut geklungen, wie ihn Kleinert von anderen Begegnungen mit Leuten aus Melbourne oder Sydney bestens kannte. Über eine schreckliche organizaition hatte er im Fuhrhof geklagt und seinem Ärger über die unfähige administraition Luft gemacht, und Kleinert hatte trotz der Unübersichtlichkeit der Lage herzlich schmunzeln müssen. Aber das akzentfreie Deutsch? Nun, das habe er von seinen Eltern gelernt, die einst aus Deutschland ausgewandert seien. Zu Hause habe man nur Deutsch gesprochen, und so etwas vergesse man schließlich nicht. Aber war damit die Frage beantwortet, warum er ihn, Kleinert, erst akzeptiert hatte, nachdem er ihn hatte in deutscher Sprache fluchen hören? Warum nicht, hatte Shippe gesagt, es seien ihm plötzlich bei genau diesem Fluchen so lebendige Erinnerungen an seinen Vater in den Kopf gekommen. Das hatte überzeugend geklungen, aber dann waren, nachdem sie am späteren Abend einige kaoliang-Schnäpse miteinander getrungen hatten, plötzlich polnische Wendungen in Shippes Rede gerutscht, und Kleinert war aufs Neue verunsichert gewesen. Fragen indes hatte er keine weiteren gestellt, denn dass dieser Shippe, woher er nun in Wahrheit auch immer kommen mochte, ein Sprachtalent sein musste, offenbarte sich ja auch in der Art, wie er mit der lokalen chinesischen Mundart zu hantieren wusste.
Egal also – Hans Shippe nannte er sich, und was er, nachdem Kleinert ihm mit einer schnörkellosen Darstellung seiner Bindung an Tschiang Kai Schek entgegengekommen war, über seine Wege in China erzählt hatte, war von einer Art, bei der weiteres Nachfragen wohl nur unnötig neues Misstrauen provoziert hätte.
Ob Kleinert, wenn er so viel wie möglich Wissen aus erster Hand aus Nordchina mit nach Hankou nehmen wolle, denn eigentlich auf dem Laufenden sei darüber, wie sich die Achte Armee entwickelt habe?
Die Art, wie Shippe seine Frage formuliert hatte, hatte verraten, dass er die überraschende Begegnung mit Kleinert endgültig akzeptiert und beschlossen hatte, sie zu seinen eigenen Gunsten auszunutzen. Und das bedeutete für ihn offensichtlich nicht nur, Kleinert gezielt auszufragen, sondern auch, ihn mit ebenso gezielten Informationen und Ansichten auszustatten. Wie gerufen war es ihm darum gekommen, dass Kleinert in Sachen der genannten Armee tatsächlich nur zu ein paar vagen Bemerkungen in der Lage war, und er hatte mit ernstem und zugleich werbendem, einnehmendem Gesichtsausdruck zu einer längeren Erklärung ausgeholt.
Er, Kleinert, hatte Shippe begonnen, solle auf keinen Fall denen glauben, die der Annahme seien, dass das, was er hier im Norden als antijapanischen Widerstand erlebe, nur die Aktionen verstreut und unzusammenhängend agierender Freischärler oder Partisanen seien. Nein, diese Aktionen seien häufig ganz direkte Unternehmungen der Achte Armee, und diese Armee sei ja nun seit dem Sommer 1937 glücklicherweise eine reguläre, von Tschiang Kai Schek anerkannte und seinem Oberbefehl unterstellte. Er, Shippe, unterstreiche das deshalb so nachdrücklich, weil viele es immer noch nicht glauben wollten: dass die von den Kommunisten geführten Kampfverbände, die sich so lange im erbitterten Bürgerkrieg mit den Tschiang-Truppen befunden hatten, nun tatsächlich zu regulären Armeen der Republik China geworden waren. Zwei solche Armeen gebe es: die Vierte, die ihr Aktionsgebiet weiter im Süden habe, und eben die Achte, die im Norden kämpfe und zu der er gerade wieder unterwegs sei.
Aber wieso denn er, ein Ausländer?, hatte Kleinert wissen wollen, und Shippe hatte nur gelacht. „Das ist hübsch,“ hatte er gesagt, „das ist wirklich hübsch – dass mich das einer fragt, der selber Ausländer ist und einen chinesischen Auftrag in der Tasche hat.“
Kleinert war verblüfft gewesen. Tatsächlich – Shippe hatte ihn ertappt. Ertappt bei der seltsamen Ansicht, ausländische Beraterschaft sei überall erlaubt, nur bei den Kommunisten nicht. Dabei waren doch gerade sie es, die überall im Ruf standen, vaterlandslose Gesellen zu sein! Da musste es doch das Normalste von der Welt sein, dass einige von ihnen auch hier anzutreffen waren. Wie kam es, dass er sich bisher damit noch nie auseinander gesetzt hatte?
Aber er hatte sich, war ihm klar geworden, im Konkreten ja ohnehin noch nie um die Kommunisten gekümmert. Zwar war von ihnen immer wieder die Rede gewesen – egal, ob im Gespräch mit Hsü Tao Lin oder mit Hermann Kröper, mit Lotte Ribbegg oder Victor Schafstetten, Siegfried Breitenschlager oder Jobst v. Tryck zu Senz – : aber den direkten Kontakt mit ihnen, den hatte er bisher nicht gesucht, und es war auch noch niemand auf die Idee gekommen, ihm einen solchen Kontakt anzubieten.
Nun stieß ihn dieser Hans Shippe mit der Nase drauf.
„Haben Sie,“ hatte er ihn gefragt, „denn schon einmal versucht, Tschou En Lai, den Vertreter der Kommunistischen Partei in Hankou, zu treffen? Das muss Ihnen doch wichtig sein, denke ich, zu wissen, wie diese Leute die Dinge sehen.“
Das ist wohl wahr, dachte Kleinert, aber er war sich auch jetzt in seinem Bambushain ziemlich sicher, dass der Marschall es kaum goutieren würde, wenn ausgerechnet er, der Deutsche, sich mit solcher Art von Kontaktarbeit befassen würde. Dennoch konnte man es drehen, wie man es wollte: Was war das Hörensagen schon wert gegen die eigene Erfahrung – und wie wollte man es denn nun kennen lernen, das Besondere der chinesischen Kommunisten, von dem so oft die Rede gewesen war, wenn man nicht auch einmal neue Wege ging und sich selbst ein Bild machte?
„Sehen Sie,“ hatte Shippe gesagt, um den Grund für seine Aufforderung noch einmal zu unterstreichen, „Tschou En Lai ist ja in Hankou beileibe nicht nur der Vertreter von zwei Armeen. Diese Aufgabe könnte ja jeder bessere Generalstabsoffizier übernehmen. Nein, Tschou ist viel mehr. Er ist der Vertreter mehrerer gesonderter Verwaltungsgebiete, ja, wenn Sie so wollen, sogar richtiger kleiner Staatswesen.“
„Staatswesen? Haben Sie sich da nicht versprochen?“ Kleinert hatte ihn mit dem Ausdruck kompletter Ungläubigkeit angesehen.
„Nein, nein, keineswegs,“ hatte Shippe geantwortet, „Sie müssen sich nur, um das zu begreifen, noch auf eine längere Befassung mit den Besonderheiten der Kriegführung einlassen.“
Er hatte dann zunächst einmal auf all das verwiesen, was Kleinert nun schon zur Genüge kannte: dass die Japaner die riesigen Territorien, die sie erobert hatten, nicht wirklich kontrollieren konnten und sich darum auf die Sicherung der Eisenbahnlinien und der Städte beschränken mussten; dass sich dadurch im Hinterland und dort, wo die Front sich in der Unübersichtlichkeit unwegsamer Landschaften verlor, beständig neue Räume für den Widerstand öffneten; und dass dieser Widerstand die Japaner zwang, immer wieder solche Truppen im schon besetzten Gebiet zu konzentrieren, die sie eigentlich für den weiteren Vormarsch gebraucht hätten.
Dann aber war Shippe auf Dinge gekommen, an die Kleinert bisher in der Tat noch keine Überlegungen verschwendet hatte. Zum Beispiel, wie denn das Alltagsleben funktionierte in diesen von den Japanern zwar eroberten, aber nicht zu kontrollierenden Gebieten ihres Hinterlandes. Wer hatte dort das Sagen? Japanische Vassallen? Leute von der Kuomintang? Oder wer sonst?
„Diese Gebiete,“ hatte Shippe erklärt, „sind ja nicht klein, sie umfassen Zehntausende von Quadratkilometern, und das ist es, was Sie ganz einfach wissen müssen: Die Achte Armee hat eine Strategie entwickelt, in diese Gebiete einzudringen und dort eigenständige Verwaltungsstrukturen zu schaffen.“
„Sie meinen,“ – Kleinerts Ungläubigkeit war nicht um einen Deut kleiner geworden – „dass dort gegen den Willen der Japaner verwaltet und regiert wird?“
„Ja, genau das meine ich,“ hatte Shippe geantwortet. „Im Grenzgebiet der Provinzen Tschahar, Schanhsi und Hopei, von dem wir hier vielleicht zweihundert Kilometer entfernt sind, ist im Januar der Anfang gemacht worden, und etwas weiter im Südosten, dort, wo die Provinzen Schanhsi, Hopei, Hunan und Schantung aufeinander treffen, hat diese Strategie ihre Fortsetzung gefunden. In beiden Regionen ist etwas entstanden, das die Kommunisten ‚Befreite Gebiete‘ nennen und in wo sie eigene Militärverwaltungsräte eingesetzt haben.“
„Und dort treffen sie eigenständige Entscheidungen?“ Kleinert war weiterhin skeptisch geblieben.
„Und was für welche.“ Shippes Stimme hatte stolz geklungen, als sei er selbst an ihnen beteiligt gewesen. „Die schmecken zwar einigen überhaupt nicht, denn eine bestand zum Beispiel darin, das Vermögen von Landesverrätern zu konfiszieren – also von Leuten, die sich den Japanern zur Zusammenarbeit angedient hatten. Dass die nun Zeter und Mordio schreien, ist nicht verwunderlich. Aber anderen schmecken sie dafür um so besser. Sie würden sich, wenn Sie Gelegenheit hätten, die Dinge in Augenschein zu nehmen, wundern, auf welch breite Zustimmung dieses Vorgehen stößt. Zumal es ja nicht nur um diesen einmaligen Akt von Enteignung geht. Die Kommunisten haben auch begonnen, eine für die hiesigen Verhältnisse neue Form von Einkommenssteuern zu erheben – nämlich progressive, damit die Dorfarmut einen Vorteil davon hat. Und schließlich – und das ist vielleicht das Wichtigste – haben sie die Bodenpacht gesenkt.“
Er hatte Kleinert Zeit gegeben, das Gehörte zu verarbeiten, und mit kaum verhohlenem Triumph verkündet: „Wenn Sie demnächst also mal wieder gefragt werden sollten, warum die Kommunisten so einen großen Einfluss haben: Hier haben Sie eine Antwort. Sie verwirklichen etwas, wovon die Bauern seit Ewigkeiten träumen.“
Kleinert hatte Zweifel daran geäußert, dass die Aktionen tatsächlich von so Vielen unterstützt würden, aber Shippe hatte einfach auf die Tatsachen verwiesen. „Sie können doch eine ganz simple Rechnung aufmachen: Wenn die Bevölkerung in ihrer Mehrheit gegen die Maßnahmen der Kommunisten wäre, könnte sie sich doch ohne alle Probleme auf die Seite der Japaner schlagen – die militärischen Kräfte der Kommunisten würden niemals ausreichen, dagegen etwas zu unternehmen. Aber so ist es eben nicht. Der Widerstandswille der Leute gegen die Eindringlinge ist eben tatsächlich viel größer, als viele das gedacht haben.“
Ob er, Shippe, denn auch der Meinung sei, dass es die Japaner selbst seien, die mit ihrem Vorgehen diesen Widerstandswillen erst richtig angefacht hätten? Kleinert hatte beschlossen, sich nicht länger bei seiner Skepsis aufzuhalten, sondern das Gespräch auch selbst ein wenig voran zu treiben. Es würde sich in Hankou schon zeigen, ob Shippe realistisch geblieben oder im Gefühl, Kleinert beeindrucken zu müssen, übers Ziel hinaus geschossen war.
„Ganz zweifellos,“ hatte Shippe geantwortet. „Es sind tatsächlich die Japaner selbst, die mit ihren geradezu fanatisch antichinesischen Aktionen die Leute erst so richtig gegen sich aufgebracht haben.“
Aber wie er sich diesen Fanatismus denn erkläre? „Ich denke,“ – Shippe hatte ihn nachdenklich angesehen, ganz so, als ob er erst einmal prüfen wolle, ob die gedankliche Anstrengung, die er zu unternehmen beabsichtigte, auch offene Ohren finden würde – „dass ich, um antworten zu können, Ihnen einen neuen Vortrag werde zumuten müssen – einen, bei dem wir sehr weit in die Geschichte der beiden Völker zurück gehen müssen.“
„Muten Sie nur,“ hatte Kleinert geantwortet, „wir haben doch Zeit,“ und Shippe hatte sich erneut in Fahrt geredet, wobei es ihm – zu Kleinerts großer Überraschung – sogar unterlaufen war, das bis dahin seine Äußerungen bestimmende Prinzip, keine nachprüfbaren Auskünfte zu seinem Tun und Lassen im Land preis zu geben, aufs Spiel zu setzen.
„Ich kenne,“ hatte er gesagt, „aus meiner publizistischen Arbeit in Schanghai einige japanische Kollegen, die der Meinung sind, die Erklärung liege in Folgendem: Die Überlegenheit Chinas gegenüber Japan in den vergangenen tausend Jahren sei so drückend gewesen, dass sich in Japan ein mächtiger Unterlegenheitskomplex breit gemacht habe. Dieser sei nicht einfach mit dem einen oder anderen konkreten Einzelerlebnis zu begründen, sondern mit einer über die Generationen hinweg vererbten Grunderfahrung. Alles in der japanischen Ursprungskultur sei überlagert worden, seitdem die Chinesen ihren Einfluss in Japan geltend gemacht haben. Die in einfachen, geraden Linien und Materialien sich darstellende Architektur sei durch die geschwungenen Linien und den Farbenüberschwang der chinesischen verdrängt worden, die japanische Schriftsprache bediene sich seither der chinesischen Zeichen, in den Essgewohnheiten habe das Chinesische Einzug gehalten, und in Kultur und Wissenschaft habe China über Jahrhunderte hinweg einen geradezu niederschmetternden Vorsprung vor Japan gehabt. Seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts habe sich in all dem ein Wandel angekündigt. Der Triumph der Japaner im japanisch-chinesischen Krieg 1894/95 sei ein erster militärisch-politischer Ausdruck dieses Wandels gewesen. Und nun, da Japan sich mit in einer gewaltigen Modernisierungsanstrengung, hinter der die Chinesen weit zurückgeblieben sind, in die Lage gebracht hat, endlich auch auf dem asiatischen Festland eine Rolle zu spielen – da breche sich nun dieser alte Unterlegenheitskomplex in einem oft grausigen Ausbruch purer Rache und Vergeltung Bahn. Es sei – haben mir diese von mir sehr geachteten, ernsthaften Kollegen gesagt – in vielen Militäreinheiten tatsächlich das Gefühl entstanden, in dieser gnadenlosen Abrechnung mit dem Feind liege ein Akt der Befreiung – der Befreiung von einer ungeheuren, über Jahrhunderte hinweg erlittenen Schmach.“
„Und Sie,“ hatte Kleinert gefragt, „glauben Sie diesem Erklärungsmuster?“
„Es ist sicher nicht das einzige,“ hatte Shippe geantwortet, „aber einen Baustein zum Begreifen der Vorgänge bildet es, denke ich, schon.“
„Zumindest,“ hatte Kleinert zugestimmt, „hat es unter solchen Voraussetzungen eine gewisse Logik, dass nicht nur die Soldaten der gegnerischen Armee als Feinde gesehen und behandelt werden, sondern alle Angehörigen des anderen Volkes – egal, ob es sich dabei um Männer, Frauen, Greise oder Kinder handelt.“
Sie waren dann ganz folgerichtig auf Nanking zu sprechen gekommen, Kleinert hatte von seinen dortigen Erlebnissen berichtet, und er war froh gewesen, zu sehen, wie er damit dem Anderen geholfen hatte, sein Misstrauen weiter abzubauen. So hatten sie mit fortschreitender Abendstunde immer offener darüber gesprochen, wie Shippe mit der kommunistischen Partei zusammenarbeitete. Als Journalist für verschiedene chinesisch-, englisch- und deutschsprachige Zeitungen in Schanghai sei er lange tätig gewesen, hatte er berichtet, jetzt aber sei er zu kommunistischen Armeezeitungen im Frontgebiet gewechselt, hin und wieder mache er sich nützlich in etwas, das sie in den Armee- und Partisaneneinheiten politische Schulung nannten, zuweilen brauchten sie ihn als Agitator in Dorfversammlungen, und schließlich, wenn Not am Mann war oder die Verhältnisse es geboten, lasse er sich als Kurier einsetzen.
Im Eindruck dieser Rede und manchen Einwurfes, den Kleinert zur Zusammenarbeit mit seinen chinesischen Auftraggebern und Freunden machen konnte, waren sie sich, als sie sich nach dem letzten Glas kaoliang-Schnaps auf den schmalen Pritschen im Schlafraum der Herberge zur Ruhe begaben, ein wenig wie Brüder vorgekommen.
Der dumpfe Klang von Schritten auf der Erde verriet, dass Shippe von seinem Erkundungsgang zurück gekehrt war. „Es hat noch keinen Zweck,“ sagte er, „wir werden heute von hier noch nicht weiter kommen. Die Leute sind zu verängstigt, glauben noch nicht daran, dass auf die morgendlichen Attacken keine weiteren folgen werden.“
Er ließ sich neben Kleinert, der sich aufgesetzt hatte, nieder und reichte ihm ein mit Kraut gefülltes Dampfbrötchen. „Das macht aber nichts,“ fuhr er fort, „denn ich habe ein paar freundliche Leute gefunden, bei denen wir die kommende Nacht bleiben können, und Ihre Klamotten“ – er wies auf Kleinerts schlammverkrusteten Anzug – „kriegen wir dort sicher auch wieder stadtfein.“
Sie gingen zwischen den Reisfeldern zum Dorf zurück. Von der Herberge, die gestern noch den Eindruck gemacht hatte, als könne sie ihnen allen Schutz dieser Welt bieten, war nur noch ein rauchender Trümmerhaufen übrig geblieben. Auch einige Bauernhäuser am Dorfrand trugen Narben des morgendlichen Gefechts. Aber das Haus, in dem Shippe Quartier angeboten worden war, stand unversehrt. Kleinert wunderte sich, dass Shippe sich so weit ins Zentrum der kleinen Ortschaft vor gewagt hatte, aber der erfahrene Kurier und Aufklärer winkte ab.
„Dafür kriegen Sie ein Gespür – ob Ihnen ein Dorf gewogen ist oder nicht.“
„Und wenn es Sie einmal trügt – dieses Gespür?“, fragte Kleinert.
„Nun – es ist Krieg,“ antwortete Shippe. „Da gilt er doppelt und dreifach, der alte Satz, dass, wer nicht wagt, auch nicht gewinnt.“
Sie wurden freundlich empfangen, und tatsächlich konnte Kleinert seinen Anzug gründlich reinigen. Es war ihm, merkte er, für sein Selbstbewusstsein wichtiger, als er gedacht hatte, wieder geordnet und unversehrt unter die Leute treten zu können. Er verspürte plötzlich eine heftige Sehnsucht nach der geregelten Welt seines Büros und nach Abenden, wie man sie an den weiß gedeckten Tischen der Restaurants und Klubs verbringen konnte.
Obwohl – auf Gesprächspartner wie Hans Shippe würde er dann wieder verzichten müssen. Und das war schade, denn Shippe fühlte sich in der Geborgenheit des neuen Quartiers durch die Aufmerksamkeit, die er ihm gestern entgegen gebracht hatte, zu immer neuen Mitteilungen und Erörterungen heraus gefordert.
„Sie werden es mir nicht verübeln,“ sagte er, als Kleinert, weil sein Anzug zum Trocknen im Hof aufgehängt worden war, sich im Unterzeug an den kleinen Tisch gehockt hatte, der ihnen von den Hausbewohnern in den kühlen, halbdunklen Raum, in dem sie die Nacht verbringen würden, gestellt worden war, „dass ich Ihren Beraterjob mit etwas anderen Augen sehe, als Sie das tun.“
„Warum sollte ich?“ Kleinert lächelte. „Nur zu! Ich weiß doch längst, dass Sie froh sind, noch einen Tag für ausführliche Referate gewonnen zu haben. Ich überlege nur noch, welchen Verlust Sie an mir ausgleichen wollen. Kann es sein, dass Sie in Ihrem früheren Leben weitaus öfter Gelegenheit hatten, solche Vorträge zu halten? Vielleicht sogar an einer Universität?“
Shippe schrak auf wie einer, der plötzlich entdecken musste, dass dem Anderen Dinge bekannt waren, über die er ihn lieber im Unklaren gelassen hätte, und im selben Moment, da er dieser Reaktion gewahr wurde, ärgerte sich Kleinert auch schon, denn natürlich wusste er nichts, hatte nur ein bisschen gepokert, und mitnichten wollte er das gute Klima, das zwischen ihnen entstanden war, um einer Information willen, mit der er ohnehin nichts hätte anfangen wollen, einer Belastungsprobe aussetzen. Also lenkte er mit einem betont lässigen „Vergessen Sie’s!“ ein, und Shippe begann, ein Bild der Beraterschaft vor ihm auszubreiten, von dem Kleinert so in der Tat noch keine Ahnung gehabt hatte, das ihn aber zugleich darin bestärkte, dass er es in der Person Shippes mit einem Mann zu tun hatte, der seine Zeit durchaus nicht nur in Schanghaier Redaktionsstuben verbrachte hatte, sondern über weit mehr Erfahrung und Verbindungen verfügen musste, als er es mit der eher beiläufigen Beschreibung seines Tuns in China bisher zu erkennen gegeben hatte.
Ja, gewiss, begann Shippe, Oberst Theodor Landmann sei ein Mann voller interessanter Modernisierungsideen gewesen, und mit ihm könne auch einer wie er, der für das kaiserliche deutsche Heer nun weiß Gott keine Sympathien übrig habe, durchaus einverstanden sein, denn sein militärischer Einsatz, seine Planungen und Ratschläge hätten noch vor allem dem Kampf gegen die Warlords gegolten, und in diesem Sinne sei der Kampf Tschiang Kai Scheks ja auch wirklich eine unterstützenswerte Angelegenheit gewesen. Aber dann, als Wellersdorff die Führung übernommen hatte, habe sich das Bild dramatisch geändert. Zum Hauptfeld des Wirkens dieses Generals sei die Unterstützung der fünf Feldzüge Tschiang Kai Scheks gegen die Kommunisten geworden, und damit habe sich das Unternehmen Beraterschaft insgesamt in einer Weise parteiisch verhalten, wie sie Tschiang sicher sehr gefallen habe, aber mit dem, was China wirklich brauche, doch mächtig in Widerspruch geraten sei. Mehrmals habe Wellersdorff 1930/31 den Marschall bei diesen Feldzügen im fahrbaren Hauptquartier begleitet, und es sei bekannt geworden, dass er sich direkt in die Mobilisierung der Truppen, die er als zu müde, zu wenig kampfbereit und zu nachlässig geführt beurteilt hatte, eingeschaltet habe.
„Aber damit nicht genug,“ fuhr Shippe fort. Auch die entscheidenden strategischen Anregungen seien von Wellersdorff gekommen. Das habe sich besonders deutlich gezeigt, als den Tschiang-Generälen zunächst keine Antwort auf die Methode der kommunistischen Einheiten eingefallen sei, in kleinen, sehr beweglichen Trupps Überraschungsangriffe zu führen, sich dann rasch wieder zurück zu ziehen und zugleich mit Nadelstichen die rückwärtigen Verbindungslinien des Marschalls zu zerstören. Wellersdorff habe in dieser Situation dazu aufgefordert, diese beweglichen Trupps zeitig und offensiv zu umzingeln, und weil er sich gleichzeitig um eine Sicherung der Nachschublinien gekümmert habe, seien damit bemerkenswerte Erfolge gegen die Kommunisten erzielt worden.
Später, in den Jahren 1933/34, habe Wellersdorff dann gemeinsam mit den Generälen Tschiangs die sogenannte „Blockhausstrategie“ entwickelt, mit der das Aktionsgebiet der kommunistischen Truppen immer weiter abgeschnürt worden sei. Die deutschen Berater seien zu dieser Zeit auch als Lehrer in den Militärschulen des Marschalls tätig geworden und hätten die Offiziere intensiv in dieser Strategie geschult, bei der es darauf angekommen sei, einen sich immer enger ziehenden Blockadering zu bilden, der an strategisch wichtigen Punkten durch Blockhäuser – also massiv befestigte Stellungen mit Ausfall- und Rückzugsmöglichkeiten – zu sichern war.
„Sie waren erfolgreich mit dieser Strategie,“ beendete Shippe diesen Exkurs in die Geschichte, „und zwar so sehr, dass die Kommunisten von ihrer Partisanentaktik abrückten und die offene Feldschlacht suchten. Das aber konnte nicht gut gehen, denn dazu waren die Tschiang-Truppen zahlenmäßig viel zu überlegen.“
„Ich kann,“ sagte Kleinert, „Ihre Sicht auf die Dinge nicht teilen. Kann es sein, dass Sie sich in dieser Fixierung auf den antikommunistischen Kampf ein wenig verrannt haben? Das, was Sie da an Einsatzbereichen deutscher Offiziere schildern, hatte meinen Erkenntnissen und Erfahrungen zufolge nicht, wie Sie meinen, in erster Linie mit dem Kampf gegen die Kommunisten zu tun, sondern mit der Abwehr der immer dreister werdenden japanischen Truppen. Denken Sie nur an Schanghai 1932. Da hat sich Wellersdorff persönlich um die Kampfbereitschaft und die Schlachtordnung der Tschiang-Truppen gekümmert, und die japanische Attacke, die angesichts des Vormarsches in Mandschukuo ja wirklich ernst zu nehmen war, ist erfolgreich zurück geschlagen worden.“
Er überlegte einen Augenblick und fuhr dann fort: „Und wie sonst, übrigens, wäre der enorme Druck erklärbar, den die Japaner seit 1936 auf unsere Beraterschaft ausgeübt haben. Sie war ihnen mehr als nur ein Dorn im Auge, war ihnen ein wirklich großes Ärgernis. Und das hätte ja, wenn der Schwerpunkt ihres Wirkens tatsächlich der Kampf gegen die Kommunisten gewesen wäre, ganz anders klingen müssen.“
„Ich werde,“ sagte Shippe, „den Teufel tun und jetzt einen Streit mit Ihnen vom Zaune brechen. Nein, das ist wirklich nicht meine Absicht – und schon gar nicht hier, wo wir erst einmal sehen müssen, wie wir aus dieser vertrackten Situation wieder heraus kommen. Ich denke nur, dass in meiner Sicht auf die Dinge vielleicht ein Schlüssel dafür zu finden ist, warum auch jetzt wieder der Antikommunismus in der deutschen Chinapolitik eine so entscheidende Rolle spielt und die Notwendigkeit des antijapanischen Bündnisses zwischen dem Marschall und den Kommunisten nicht begriffen wird.“
„Aber das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun,“ sagte Kleinert. „Die Leute, die in Berlin heute die Entscheidungen treffen, und die Militärberater – die haben doch überhaupt nichts miteinander zu tun. Im Gegenteil, sie stehen sich doch – nun, vielleicht nicht feindlich – aber doch jedenfalls entschieden unfreundlich gegenüber, denn sonst hätte es ja nicht zu diesem geradezu demütigenden Abzug der Berater kommen können. Sie können also doch nicht eine gleichartige Motivation unterstellen, wenn es um geradezu entgegen gesetzte Aktionen geht!“
„Meinen Sie wirklich,“ – Shippe blieb ganz gelassen – „dass den in der Tat entgegengesetzten Aktionen auch unterschiedliche Motivationen zu Grunde liegen? Ich meine, dass das – jedenfalls in Bezug auf den hier zur Debatte stehenden Antikommunismus – keineswegs der Fall ist. Man hätte in dieser Frage in Berlin schon sehr gern Kontinuität gehabt. Das Problem ist doch nicht, dass die Linie der Militärberater unakzeptabel geworden wäre, sondern das Problem sind die Japaner, die mit ihrem Krieg eine neue Lage geschaffen haben, und das Problem ist Tschiang Kai Schek, der sich den Japanern nicht unterworfen hat. Hätte der Marschall diese Unterwerfung vollzogen – und erinnern Sie sich bitte, dass einige der Militärberater ihn dazu ziemlich heftig gedrängt haben! –, hätte er also die japanischen Friedensbedingungen akzeptiert und sich außerdem auch noch dem Antikominternpakt angeschlossen – nun, dann hätten Sie mal sehen sollen, wie auch Ihre Militärberater ihre Arbeit hätten fortsetzen können. Denn dann – das ist doch klar – hätte es für alle gemeinsam wie schon 30/31 nur einen Feind gegeben: die Kommunisten, die zur Fortsetzung ihres antijapanischen Widerstandes auf jeden Fall und unter allen Umständen bereit waren. Denn das waren und sind sie sich schuldig, nachdem sie sich dem fünften Feldzug, von dem wir vorhin sprachen, durch ihren Langen Marsch, der sie Tausende Kilometer weit in einem Halbrund von Süden her nach Westen und dann nach Norden durch das ganze Land führte, entzogen und sich im unwegsamen Yän’an im Nordwesten eine neue Basis geschaffen hatten.“
Er hat Recht, dachte Kleinert, was soll da jetzt ein Streit. Zumal er selbst dabei schlechte Karten hatte, weil er sich – wie er wieder einmal merkte – in jenen Jahren, da es ihm um den Austauschvertrag gegangen war, so gut wie gar nicht für diesen militärischen – oder gar politischen – Teil der Beraterschaft interessiert hatte. Die Aufgaben waren klar voneinander abgegrenzt gewesen, und das hatte ihn nicht gestört, und so konnte er jetzt in der Tat nichts anderes tun, als die Ansichten, die Shippe ihm präsentierte, geduldig zur Kenntnis zu nehmen.
Aber auf etwas anderes, dachte er weiter, kam es doch auch gar nicht an. Wozu hätte denn er, Kleinert, den Anderen bekehren sollen? Viel wichtiger war es doch, so viele Eindrücke und Ansichten wie nur irgend möglich mit zu nehmen. Und da lohnte es sich nicht, vorher schon herauszusieben, was wichtig sein könnte und was nicht. Der Marschall würde ihm in jedem Falle mit freundlichem Lächeln und interessierter Zugewandtheit lauschen – und ihm, so gut kannte er ihn längst, mit keiner Regung des Gesichts oder der Hände zu erkennen geben, was von dem, das er ihm da mitteilte, für ihn neu oder von Bedeutung war und was nicht, was ihn freute und was ihn ärgerte. Er hatte – und nur das zählte – signalisiert, dass ihm an jeder und wirklich jeder Information gelegen war – und da musste Kleinert jetzt nicht darüber nachdenken, wie er sich in der Debatte vorteilhaft zu schlagen vermochte, sondern er musste Shippe dankbar sein für dessen Mitteilungsdrang und ihn nicht stoppen, sondern, ganz im Gegenteil, noch zu weiteren Erörterungen herausfordern. Wann denn je würde sich eine solche Gelegenheit wiederholen?
Und es ging ihnen doch gut in ihrem so überraschend gewonnenen Quartier. Die Hausfrau, eine noch junge, kleine, rundliche Person in dunkelblauer Hose und weißer Bluse, hatte ihnen mit den gleichen quirligen, von fröhlichem Geplapper begleiteten Bewegungen, mit denen sie zuvor auf dem Hof zugange gewesen war, eine Kanne Tee, eine Schüssel mit Reis und ein paar Schalen mit scharf eingelegten verschiedenen Gemüsen, die Kleinert auch jetzt, nach so vielen Jahren im Land, noch immer nicht zu bestimmen wusste, hereingetragen, die Kleinertschen Sachen waren mittlerweile getrocknet, und die Stille, die über dem Dorf lag, gab begründeten Anlass zu der Hoffnung, dass sich am nächsten Tag ein Gefährt finden würde, mit dem sie sich wieder in Richtung Süden würden auf den Weg machen können.
Warum also zögern, dachte Kleinert, und beschloss, Shippe nach jenem Vertrag zu fragen, dessen Ausdeutungen und Wirkungen ihn nun schon so lange beschäftigten: nach dem Antikominternpakt.
„Ich habe da,“ sagte Shippe, „wenig Zweifel. Für mich ist dieser Vertrag ein wirkliches Kriegsbündnis, ein Bündnis, dem die ganze Welt unterworfen werden soll.“
„Sie wissen, dass die meisten das ganz anders sehen?“
„Ja gewiss,“ sagte Shippe, „das ist doch auch ganz klar: Wer etwas zu verschleiern hat, spielt diesen Vertrag herunter. Aber wer den Mut hat, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, dem bleibt gar keine andere Wahl – der muss erkennen, dass der Vertrag Japan internationale Rückendeckung für den Überfall auf China gegeben hat und seit diesem Jahr umgekehrt auch Deutschland Rückendeckung gibt – nämlich für seine Expansionspolitik in Europa. Schauen Sie doch nur, wie sich die Methoden gleichen: Japan hat – mit Mandschukuo beginnend – immer energischer getestet, wie viel an chinesischem Territorium es unter seine Kontrolle bringen kann – und zwar noch im Zustand des Friedens! –, ohne dass es zu irgendeiner Art von internationaler Gegenmaßnahme kommt, und siehe: Die Welt hat einfach zugesehen. Der Antikominternpakt hat Japan in seinem Vorgehen dann noch weiter bestärkt, das halbe Nordchina haben sich die Japaner in seinem Gefolge – und zwar immer noch im Zustand des Friedens! – unter ihren Nagel gerissen, und als sie dann schließlich im Juli 37 den großen Krieg vom Zaune brachen – na, da mussten sie mit internationaler Gegenwehr nun schon gar nicht mehr rechnen. Und zwar deshalb nicht, weil die, die diese Gegenwehr zu leisten in der Lage gewesen wären – nämlich England und Frankreich – bereits viel zu viel Angst davor hatten, mit einer solchen Aktion Deutschland, den Verbündeten Japans, zu provozieren.“
“Meinen Sie wirklich, dass es einen solchen Zusammenhang gegeben hat?“ Kleinert spürte, wie er zunehmend skeptischer wurde, wenn er mit solchen allzu schlüssigen Beweisketten konfrontiert wurde.
„Ja, das meine ich.“ Shippe war sich seiner Sache sicher. „Schauen Sie doch hinüber in Ihr Europa, das einem hier ansonsten all zu leicht aus dem Blickfeld gerät. Deutschland macht das Gleiche wie Japan: Es testet, wie weit es gehen kann. Anschluss Österreichs – alle halten still. Jetzt wird ganz offen davon geredet, dass man mit der Tschechoslowakei genauso verfahren will – und wieder gibt es keine Gegenwehr. Ich weiß nicht, was in den englischen und französischen Köpfen vor geht – aber offenbar träumt man davon, die Angreifer besänftigen zu können, wenn man nur still genug hält. Hier in Asien war das noch nicht so verwunderlich – schließlich hatte China weder mit England noch mit Frankreich irgendwelche Verteidigungsbündnisse, auf die es sich hätte berufen können, und die Engländer und Franzosen ihrerseits hoffen offenbar immer noch, auch unter den Japanern ihre Sonderrechte beibehalten zu können. Sie werden erst aufwachen, wenn es zu spät ist.“
Er machte eine Pause, weil er den Eindruck hatte, dass Kleinert etwas einwerfen wollte, aber Kleinert hatte lediglich sinnend mit dem Kopf genickt, weil er sich wieder der Reden von Rudolf Fuchs über den gelb-weißen Gegensatz erinnert hatte.
„Aber in Europa,“ fuhr Shippe fort, „dort gibt es ja Bündnisverpflichtungen und ein völkerrechtliches Regelwerk, das viel stabiler ist als hier in Asien – und trotzdem dieses unsägliche Stillhalten. Wie auch – übrigens – in Afrika. Dort ist es Italien, das dritte Unterzeichnerland des Paktes, das mit dem Krieg in Abbessinien die Rolle des Testers und Herausforderers spielt, und die Antwort der klassischen Kolonialmächte ist wieder dieselbe – nämlich, gar nichts zu tun. Da haben Sie sie doch also in ihrem ganzen Ausmaß vor sich liegen – die Wirkung des Antikominternpaktes: Er schüchtert ein, weil er die drei aggressivsten Mächte der Erde miteinander verbündet, und er stärkt die drei Unterzeichnerstaaten weiter, weil sie sich mit ihm gegenseitig versichern, dass sie sich nicht in den Rücken fallen werden.“
Er hat Recht, dachte Kleinert, so schmerzhaft es auch klingt. Er hat Recht, denn genau da liegt ja auch die Antwort auf die Frage, warum Deutschland nicht protestiert hat gegen die Gräuel der japanischen Truppen und so schnell bei der Hand war, als die Japaner gefordert hatten, Tschiang Kai Schek die Unterstützung zu entziehen. Sie sind tatsächlich Programm, die Sätze, die Hitler bei der Anerkennung Mandschukuos durch Deutschland über die Schwäche Chinas gesprochen hat und darüber, dass das japanische Vorgehen gerechtfertigt sei, weil China aus Eigenem dem Kommunismus nicht werde widerstehen können.
Was für ein vertrackter Kreislauf hatte sich mit all dem aufgetan. Kleinert fühlte sich plötzlich richtiggehend erschöpft. Es gab doch viele Gründe, die dafür sprachen, den Kommunismus wirklich mit allen Mitteln zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass es eine zweite Sowjetunion nicht geben werde. Sie waren ja nicht aus den Fingern gesogen, die Nachrichten, die in den Kreisen der Exilrussen in Hankou immer wieder die Runde machten und in denen von massenhafter Enteignung und Vertreibung der Bauern, von Hungersnöten und politischen Schauprozessen die Rede war, und dass sich die Sowjetunion als Ausgangspunkt kommunistischer Umstürze überall in der Welt verstand – nun, dafür gab es eine solche Beweisfülle, dass man weiter nicht darüber reden musste. Und es stimmte auch, dass China dafür ein besonders treffendes Beispiel war.
Und doch: Auch dies war eine so überaus schlüssige Beweiskette, dass man ihr offensichtlich mit Skepsis begegnen musste. Und der Schlüsselgedanke dieser Skepsis musste sein, dass, wie Hsü es immer wieder betont hatte, Kommunismus nicht einfach gleich Kommunismus war.
Sie waren beide müde geworden, Hans Shippe und er, und weil es ihnen gelungen war, den Hausherrn, nachdem er von seiner Arbeit in der Dorfverwaltung zurück gekehrt war, davon zu überzeugen, dass es sein Schade nicht sein werde, wenn er einmal nachschaute, ob sich nicht irgendwo noch ein Flasche kaoliang-Schnaps finden ließe, konnten sie sich sogar wie am Abend zuvor an einem kräftigen Schlummertrunk gütlich tun.
Gut, dachte Kleinert, dass er nicht würde allein reisen müssen am nächsten Morgen und sie noch ein, zwei Stunden für eine Fortsetzung des Gespräches haben würden. Als er aber die Augen aufschlug nach Stunden tiefen und erholsamen Schlafes, der ihm die Überanstrengung noch einmal bewusst machte, mit der die plötzliche Flucht ins Reisfeld verbunden gewesen war, war Shippe verschwunden. Na klar – Kleinert ging ein Licht auf: Hätte der Fremde sich denn so offen über seine Ansichten verbreitet, wenn er nicht von Beginn an geplant hätte, ihn, Kleinert, schon bald auf Nimmerwiedersehen zu verlassen? Still und heimlich hatte er sich davongemacht, wohl wissend, dass es keinerlei Spuren geben würde. Eine Zufallsbegegnung – und Schluss. Kleinert staunte über die Wehmut, die er bei dieser Einsicht empfand.
Aber es war, wie er schon bald nach seiner glücklichen Rückkehr nach Hankou merkte, kein Wunder, dass sie ihn so tief bewegt hatte, die Begegnung mit Hans Shippe, und zwar nicht nur, weil der ihm das Leben gerettet hatte. Eine aufgeregte Lotte Ribbegg brachte ihn wieder auf die Spur seines geheimnisvollen Reisegefährten zurück.
„Ach, Paul,“ rief sie ihm schon von der Eingangstür zu, als sie ihn wieder einmal unangemeldet besuchte – ganz so, wie sie sich das ausgemacht hatten, um sich, wie sie glaubten, auf diese Weise das Fröhlich-Ungezwungene ihrer Beziehung erhalten zu können –, „Schoknecht, dieser Übereifrige, spielt mal wieder verrückt. Ist mal wieder auf Feindesjagd gegangen im Dschungel der Zeitungen. Irgendein Engländer ist es diesmal oder Australier, den er auf dem Kieker hat. Seaman ist sein Name, aber Schoknecht meint, vom Duktus und den Argumenten her könne es sich nur um einen Deutschen handeln, der sich eines Pseudonyms bedient. Jedenfalls seien ihm gleich ein paar Artikel von diesem Seaman untergekommen, bei denen es sich um wüste Hetze gegen Deutschland und gegen das deutsch-japanische Bündnis handele.“
„Und,“ fragte Kleinert, „wissen sie schon Genaueres?“
„Natürlich nicht,“ antwortete Lotte Ribbegg und umschlang ihn mit jener Freigiebigkeit, nach der er sich in Peking so heftig gesehnt hatte. „Aber er hat ganz stolz berichtet, unser Aufpasser, dass er in der Botschaft ordentlich Dampf gemacht hat und auch schon im chinesischen Außenministerium vorstellig geworden ist.“
Soll er nur, dachte Kleinert und überließ sich widerstandslos Lottes kundigen Händen. Es müsste, dachte er noch, doch mit dem Teufel zugehen, wenn es diesem Shippe an Ideen mangeln würde, seine Ansichten so geschickt unter die Leute zu bringen, dass sie ihn nicht finden würden und er doch unverkennbar bliebe. Shippe oder Seaman oder wie auch immer – Schoknecht sollte sich die Finger wund suchen.