Adolphi 2023: Nachruf auf Hans Modrow (27.1.1928-10.2.2023)

Wolfram Adolphi/Februar 2023

Hans Modrow (27.01.1928-10.02.2023)

Ein persönlicher Nachruf

 

Hans Modrow ist gestorben. Es bewegt mich sehr. Mein Leben hat es mit sich gebracht, dass ich mit ihm ziemlich oft und unter sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen zusammengetroffen bin. Weil daraus in den letzten Jahren wahrhaftige Genossenschaft er-wuchs, fühle ich mich zu diesem persönlichen – und selbstverständlich parteilichen – Nachruf berechtigt.

I

Hans Modrow – der promovierte Ökonom Dr. Hans Modrow – gehört zu den wichtigsten deutschen Politikern der 1980er und 1990er Jahre.

Dabei stand er nur für kurze Zeit wirklich an der Spitze, und dies in einem Staat, der sich in einem Umbruch befand, der auf sein Ende hinauslief: in der DDR in ihrem 41. Jahr. Jedoch: Was war das für eine dramatische Zeit!

Ein Zeitalter ging zu Ende: das Zeitalter der Sowjetunion, des Warschauer Vertrages und der sozialistischen Staaten in Europa. Ein Zeitalter, das auf den 1945 errungenen Sieg der Anti-Hitler-Koalition über den deutschen Faschismus und den japanischen Militarismus im Zweiten Weltkrieg gefolgt war und zu dessen Merkmalen auch die Existenz zweier deutscher Staaten gehört hatte.

Niemand konnte in diesen Monaten von Herbst 1989 bis Frühjahr 1990 voraussehen, was der nächste Tag bringen würde. Die nationalen und internationalen Entwicklungen bargen Sprengkraft unbekannten Ausmaßes. Modrow hatte den Mut, sich den damit verbundenen Herausforderungen zu stellen. Er war im November 1989, nachdem das Politbüro der SED, dem er nicht angehörte, die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten geöffnet hatte, bereit, an die Spitze zu gehen, obwohl niemand mehr sagen konnte, was noch deren Unterbau war. Und als er im März 1990 durch demokratische Wahlen aus der Spitze wieder abberufen wurde, zog er sich nicht ins Privatleben zurück, sondern kämpfte – seinen kommunistischen Überzeugungen treu bleibend und sich der Verantwortung für sein Handeln in der DDR und in der Wendezeit nicht entziehend – für eine starke sozialistische Opposition.

II

Hans Modrow, Mitglied der SED, wurde am 13. November 1989 von der Volkskammer der DDR zum Ministerpräsidenten – offizielle Bezeichnung: zum Vorsitzenden des Ministerrates – gewählt. Die von ihm geführte Regierung arbeitete vom 18. November 1989 bis zum 12. April 1990.

Wie war die Lage an jenem 18. November? Ab Mai 1989 hatte die Infragestellung der DDR in der Form, wie sie seit ihrer Gründung am 7. Oktober 1949 existierte, durch oppositionelle Gruppen in der DDR, durch eine wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung insgesamt, auch durch Kritik und Reformüberlegungen innerhalb der SED sowie gleichzeitig durch eine alles überwölbende Erosion der Organisation des Warschauer Vertrages und eine ebenso überwölbende Einflussnahme des westlichen Machtblocks eine so durchgreifende Beschleu-nigung erfahren, dass eine geregelte Führung durch das Politbüro des ZK der SED und den Ministerrat nicht mehr möglich war. Mit der Öffnung der Mauer am 9. November war diese Situation unumkehrbar geworden. Alles nun Folgende konnte nur noch darauf gerichtet sein, die unvermeidlichen Umbrüche friedlich zu gestalten und Sorge dafür zu tragen, dass es nicht zu einem Kollaps der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundfunktionen wie Energie- und Lebensmittelversorgung, Gesundheits- und Bildungswesen oder kommunale Verwaltung und Rechtswesen kommen würde.

Modrow hat gemeinsam mit seiner Regierung diese außergewöhnliche Situation, in der in besonderem Maße gleichzeitig Standhaftigkeit und Veränderung, Prinzipientreue und Kom-promiss, Festhalten und Loslassen, Einsicht und Selbstkritik gefordert waren, gemeistert. Die friedliche Revolution blieb friedlich. Es gab weder Kollaps noch Chaos. Das war nicht so selbstverständlich, wie es heute klingt, und es hat viel mit Modrows Persönlichkeit zu tun.

Modrow war bei Gründung der DDR 1949 21 Jahre alt und gerade aus vierjähriger sowjetischer Kriegsgefangenschaft, mit der er seine nur wenige Wochen dauernde, im Alter von 17 Jahren durch „Einberufung“ entstandene Zugehörigkeit zum faschistischen „Volks-sturm“ am Oderhaff bezahlt hatte, zurückgekehrt. Er hat – entscheidend geprägt durch die Antifa-Schule, durch die er in der Gefangenschaft gegangen war – die DDR als gesellschaft-lichen Neuanfang gewollt, und er war in ihr fast von Anfang an Berufspolitiker. Der Aufbau des Sozialismus entsprach seinen Überzeugungen, und er setzte sich mit aller Kraft für ihn ein. Er tat es mit der tief verinnerlichten Haltung, das Erbe des antifaschistischen Widerstands-kampfes der Gründerinnen und Gründer der DDR aufnehmen und weitertragen zu wollen, und entwickelte dabei komplexes marxistisches Denken und überdurchschnittliche Organisations-fähigkeit wie auch eine ihm immer wieder bestätigte Volksnähe, die Fähigkeit zum Ausgleich und den Mut zum Widerspruch.

Von 1973 bis 1989 war er, nachdem er bis dahin in Berlin Karriere gemacht hatte, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden. Erich Honecker wollte ihn nicht in seiner Nähe haben. Aber der Bezirk Dresden war keineswegs abgelegene Provinz, sondern ein Industrie-, Technik-, Wissenschafts- und Kulturbezirk ersten Ranges, Modrows Führungsqualität daher von großer Bedeutung für das ganze Land. Als sich die Krisen des Jahres 1989 zuspitzten, musste er am 4. Oktober gemeinsam mit Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer mit einer der kompliziertesten Situationen überhaupt fertig werden: Das Politbüro in Berlin hatte entschieden, die Züge mit Flüchtlingen aus der DDR, die in der Botschaft der BRD in Prag Zuflucht gefunden hatten und sich nun im Ergebnis von zwischenstaatlichen Verhandlungen auf Ausreise befanden, über Dresden fahren zu lassen, woraufhin es dort zu großen Menschen-ansammlungen, wutentbrannten Zerstörungen, dem Versuch, die Züge zu stürmen, heftigen Zusammenstößen mit der Polizei und über tausend Verhaftungen gekommen war. An diesem Tag, auf den Modrow später sehr selbstkritisch zurückgeblickt hat mit der Erkenntnis, dass er  viel eher das direkte Gespräch mit den vielen Unzufriedenen hätte suchen müssen, war das Eskalationspotential mit Händen zu greifen; es ist aber, weil Viele sich ihr entgegenstellten, zu weiterer Eskalation nicht gekommen.

Modrow, als er in schwierigster Lage das Amt des Ministerpräsidenten übernahm, trug diese Oktobererfahrung ebenso in sich wie das Wissen um die blutige Zerschlagung der Protestbewegung in China am 4. Juni 1989. Er war – seine Dresdener Zeit eingeschlossen – immer international für die DDR tätig gewesen, verfügte über zahlreiche langjährige Kontakte in die Sowjetunion, nach China, nach Korea, nach Japan, hatte sich vielerorts als Entspannungs-politiker einen Namen gemacht, und dies alles trug zu der Besonnenheit bei, mit der er in seiner Regierungszeit agierte. In diese Wochen fallen auch weithin anerkannte Proben seines persönlichen Mutes: Als am 15. Januar 1990 die ehemalige Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin gestürmt wurde, begab er sich dorthin, um mit seiner Anwesenheit gefährliche Zuspitzungen zu verhindern. Ein Foto zeigt ihn völlig ungeschützt auf einem kleinen Podest mitten in der aufgebrachten Menge stehen – die linke Hand in der Manteltasche und die rechte das Mikrofon haltend, in das er gerade spricht mit einem Gesichtsausdruck, der gespannte Entschlossenheit und den Willen, Ruhe zu verbreiten, verrät.

III

Modrows Weitblick und sein Streben nach friedlicher Problemlösung waren von großer Bedeu-tung für die Regierungsbildung: Er gewann Frauen und Männer aus allen in der Volkskammer vertretenen fünf Parteien SED, CDU, LDPD, NDPD und DBD. Es gab in seinem Kabinett lang-gediente Minister wie Außenminister Oskar Fischer (SED), Außenwirtschaftsminister Gerhard Beil (SED), Umweltminister Hans Reichelt (DBD), Justizminister Hans-Joachim Heusinger (LDPD) oder den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer (SED), und es gab Vertreter der jüngeren Generation wie die Ministerin für Arbeit und Löhne Hannelore Mensch (SED) und Kulturminister Dietmar Keller (SED).

Eine für die übliche Männerdominanz sensationelle Entscheidung bestand in der Wahl der Ökonomieprofessorin Dr. Christa Luft zur Wirtschaftsministerin und zugleich zur Stellvertreten-den Ministerpräsidentin. Christa Luft wurde für Modrow zur entschlossenen Mitstreiterin; gleich ihm erwarb sie in dieser Zeit so viel Vertrauen und Zustimmung, dass sie noch für viele Jahre die Politik der PDS mit bestimmte. Zweimal gewann sie bei Bundestagswahlen in Berlin ein Direktmandat, saß damit für die Partei von 1994 bis 2002 im höchsten deutschen Parlament und machte sich als haushaltspolitische Sprecherin ihrer Fraktion einen Namen.

Neben Christa Luft fungierten in der Modrow-Regierung als Stellvertretende Minister-präsidenten Peter Moreth (LDPD), zugleich Minister für Örtliche Staatsorgane, und Lothar de Maizière (CDU), zugleich Minister für Kirchenfragen. De Maizière wurde im Ergebnis der Volks-kammerwahl vom 18. März 1990 Modrows Nachfolger und damit letzter Ministerpräsident der DDR. Das freilich war im November 1989 noch nicht abzusehen.

Mit Weitblick handelte Modrow auch in seiner Partei, der SED. Mit seiner Überzeugungs-kraft trug er entscheidend dazu bei, dass es auf deren außerordentlichem Parteitag im Dezem-ber 1989 nicht zur von Vielen geforderten Auflösung kam. Er könne – so führte er in der maß-geblichen Nachtsitzung aus – das Amt des Ministerpräsidenten nicht ausüben ohne den Rückhalt einer starken, noch immer einflussreichen Partei. Und eine solche war die nun SED-PDS sich nennende, im Februar 1990 den Namen PDS annehmende Partei trotz einer raschen Halbierung ihrer Mitgliederzahl von mehr als zwei Millionen auf eine Million und weiterer Austrittswellen noch immer geblieben. Bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 errang sie mit Modrow und dem Parteivorsitzenden Gregor Gysi an der Spitze hinter der CDU (40,8 %) und der SPD (21,9 %) mit 16,4 % den dritten, bei den Wahlen zur Stadtverordnetenver-sammlung in (Ost-)Berlin am 6. Mai 1990 hinter der SPD (34,1 %) und vor der CDU (17,7 %) mit 30,1 % den zweiten Platz, und es gelang in diesem Jahr auch der Einzug in alle ostdeutschen Landtage und am 2. Dezember wiederum mit Modrow und Gysi der Einzug in den Bundestag sowie in Berlin der Einzug ins nun die gesamte Stadt umfassende Abgeordnetenhaus.

IV

Modrow war politisch erfahren genug, um zu wissen, dass er nur ein Mann des Übergangs sein würde. Dennoch gaben ihm verschiedene nationale und internationale Entwicklungen Grund zu der Hoffnung, zu diesem Übergang selbst noch Gestaltendes leisten zu können. Für ein paar Wochen schien es, als sei die Idee einer auf ein oder zwei Jahre angelegten Konföderation beider deutscher Staaten, in der Zeit sein würde, den Übergang politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell abgefedert vollziehen zu können, eine durchaus realistische Option. Immerhin gab es am 21./22. Dezember 1989 noch einen offiziellen Besuch des französischen Staats-präsidenten François Mitterand in der DDR. Und gab es nicht allen Grund, nach vierzig Jahren der Spaltung die Vereinigung als wirkliche Neugründung ins Auge zu fassen? Vollzogen von zwei souveränen, als Mitglieder der Vereinten Nationen und Unterzeichner der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von Helsinki 1975 weltweit anerkannten Staaten? Mit einer – wie es das Grundgesetz der Bundesrepublik vorsah – neuen, vom Volk beschlossenen Verfassung? Und eingebettet in eine noch auszuhandelnde neue kollektive europäische Sicherheitsstruktur?

In diesen Fragen jedenfalls gab es starke Berührungspunkte zwischen der SED, die im Dezember 1989 auch formal auf das ihr von der Opposition längst entrissene Führungsmono-pol verzichtet hatte, und verschiedenen oppositionellen Kräften, deren Anspruch darin bestan-den hatte, die DDR auf demokratischem Wege zu verändern, nicht aber sie saft- und kraftlos in einem vereinten Deutschland aufgehen zu sehen. Deshalb war es von großer Bedeutung, dass Modrow am 5. Februar 1990 seine Regierung um Persönlichkeiten aus den am Runden Tisch versammelten oppositionellen Parteien und Bewegungen erweiterte und mit den Ministerinnen und Ministern ohne Geschäftsbereich Tatjana Böhm, Rainer Eppelmann, Sebastian Pflugbeil, Matthias Platzeck, Gerd Poppe, Walter Romberg, Klaus Schlüter und Wolfgang Ullmann eine „Regierung der nationalen Verantwortung“ bildete. Sie alle verkörper-ten – mit allerdings ganz unterschiedlicher politischer Ausrichtung – den Reformwillen und die Reformideen bedeutender Teile der DDR-Bevölkerung, und vor allem Wolfgang Ullmann von der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ setzte mit seinen Anstrengungen für die Ausarbei-tung einer neuen Verfassung der DDR ein unübersehbares Zeichen für den Willen zur Selbst-behauptung und zur Ausstrahlung der mit der friedlichen Revolution verbundenen Reform-möglichkeiten auch auf die Bundesrepublik.

V

Der Machtblock der Bundesrepublik trieb die Entwicklung jedoch mit rasch zunehmender Geschwindigkeit über die Köpfe der „Regierung der nationalen Verantwortung“ hinweg in eine Richtung, die nur noch auf Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes hinauslief und für Selbstbehauptung oder gar Ausstrahlung in den Westen keinerlei Spielraum ließ.

Modrow erlebte unter diesen Bedingungen in seiner kurzen Zeit als Ministerpräsident in besonders unverblümter und demütigender Form die beiden Bedingungsgefüge, unter denen die DDR immer existiert hatte und die jedem politischen Handeln im Großen wie im Kleinen stets ihren Stempel aufgeprägt hatten: die Abhängigkeit von der Sowjetunion und die System-konkurrenz mit der BRD. Dabei machte er eine spiegelbildlich schmerzhafte Erfahrung: Sowohl in Moskau als auch in Bonn war er in den Perestroika-Jahren 1985-89 als Reformer gehandelt worden – will sagen: als ein Mann, den man gegen Erich Honecker ins Feld führen zu können hoffte –, und wiederum sowohl in Moskau als auch in Bonn ließ man ihn im Januar/Februar 1990 spüren und wissen, dass man seiner jetzt, da die Wiederherstellung der staatlichen deutschen Einheit mittels Anschluss der DDR an die BRD zwischen den Regierungen der Sowjetunion und der BRD beschlossene Sache war, nicht mehr bedurfte.

Ihren Höhepunkt erreichte die Demütigung Modrows, seiner Stellvertreterin und Wirt-schaftsministerin Christa Luft sowie der zur Verhandlungsdelegation gehörenden Regierungs-mitglieder des Runden Tisches, als Bundeskanzler Helmut Kohl am 13. Februar 1990 in Bonn alle Vorschläge der DDR-Regierung brüsk zurückwies. Die Herstellung der Währungsunion auf Grundlage der D-Mark war zu diesem Zeitpunkt bereits allen Warnungen vor dem dann tat-sächlich eintretenden Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und ihrer beträchtlichen Außen-wirtschaftsbeziehungen zum Trotz auf den 1. Juli 1990 festgelegt worden.

Modrow ließ sich durch diese Behandlung nicht davon abbringen, in den folgenden Jahren bis 1994 als Mitglied der sozialistischen Opposition im Bundestag und von 1999 bis 2004 im Europaparlament seine gesellschafts- und friedenspolitischen Positionen zu vertreten. Die feindselige Behandlung, die er als Ministerpräsident erfahren hatte und nun auch – da er die Politik des Anschlusses mit dem vielerorts zur Deindustrialisierung führenden Agieren der Treuhandanstalt, der Umsetzung des Millionen Bürgerinnen und Bürger der DDR diskriminie-renden und enteignenden Grundsatzes „Rückgabe vor Entschädigung“, der Zerschlagung sozia-ler Errungenschaften und vielem anderen mehr anprangerte – durch die bürgerliche Mehrheit in den Parlamenten erfuhr, bestätigte ihn in seinen langen Erfahrungen des Klassenkampfes, und er wurde zeit seines Lebens, das immer auch Parteileben war, nicht müde, diese Erfahrun-gen eindringlich weiterzugeben.

VI

Meine erste Begegnung mit Hans Modrow hatte ich irgendwann Anfang der 1980er Jahre – das genaue Datum vermag ich nicht mehr zu sagen – als Auslandskorrespondent der Wochen-zeitung „horizont“ und Mitglied der SED-Parteigruppe an der Botschaft der DDR in Tokio bei einer Parteiversammlung, zu der wir ihn einladen konnten, weil er als Vorsitzender der Parlamentarischen Freundschaftsgruppe DDR-Japan der Volkskammer ein wiederholtes Mal einer Einladung seiner japanischen Partner gefolgt war. Ich erinnere mich einer lebhaften und offenen Diskussion über die Entwicklung in der DDR, in der die uns alle bewegenden Probleme etwa des zu langsamen wirtschaftlichen Vorankommens, des Verfalls der Innenstädte oder des Mangels an innerparteilicher und öffentlicher Debatte im Mittelpunkt standen. Modrow bestätigte mit seiner freundlichen, zugewandten Art des Vortrags und Diskutierens den Ruf, der ihm vorausging. Mich als damals knapp über 30jährigen ermutigte sein Auftreten. Da war einer, zu dem man mit seinen politischen Ansichten und Plänen Nähe spüren konnte, einer, der Bewegung erahnbar machte. Die Resignation, die ich im Rückblick glaube in seinem Auftritt erkennen zu können, habe ich – wenn es sie denn gab – damals nicht empfunden. Schmunzeln muss ich heute darüber, mit welcher Entschlossenheit der Mittfünfziger mit Blick auf den rund 70jährigen Honecker davon sprach, dass man wissen müsse, „wann Schluss ist“. Er selbst hat später für sich einen Schluss nie akzeptiert. Und zwar nicht nur im Sinne fortgesetzter geistiger und politischer Aktivität, sondern auch der Bekleidung öffentlicher Ämter. So wollte er im Jahre 2004 ein zweites Mal fürs Europaparlament kandidieren – da war er 76 und hätte in der Legislaturperiode die 80 überschritten.

Als ich ihn Ende Februar 1990 das zweite Mal traf, war er Ministerpräsident. Ich war frisch gewählter Bezirks- (später: Landes-)vorsitzender der PDS in Berlin und begab mich mit anderen Bezirksvorsitzenden der Partei, die zu gemeinsamer Beratung in die Hauptstadt gekommen waren, zu Modrow in seinen Amtssitz im Alten Stadthaus in der Klosterstraße, um ihn davon zu überzeugen, bei den Volkskammerwahlen für die PDS zu kandidieren. Wir drehten den Spieß um: Er hatte im Dezember 1989 gefordert, dass die Partei bestehen bleiben müsse, um ihm das Regieren zu ermöglichen – nun wollten wir von ihm, dass er die Partei mit seinem Ansehen und Können stütze. Er nahm sich Zeit und sagte am Ende zu.

Zu zahlreichen konzentrierten Arbeitsgesprächen kam es dann in der Zeit von 2005 bis 2016. Ich war wissenschaftlicher Mitarbeiter von Roland Claus in der Linksfraktion im Bundes-tag, und Claus hatte die Funktion eines Ostkoordinators der Fraktion übernommen. Das war ein Thema, für das sich auch Modrow verantwortlich fühlte, und zwar dergestalt, dass er – mittlerweile zum Ehrenvorsitzenden der Partei und Vorsitzenden ihres Ältestenrates gewählt – immer wieder mit Hartnäckigkeit das Gespräch mit Claus suchte, um konkrete von ihm vorgeschlagene parlamentarische Initiativen auf den Weg zu bringen. Es ging dabei um den ganzen großen Komplex der fortbestehenden Lohn- und Gehaltsunterschiede zwischen Ost und West, der Ungleichheit der Lebensbedingungen, der fehlenden Angleichung der Ost-Renten, der Folgen der Deindustrialisierung und andere Probleme mehr.

Modrow, bestens vernetzt mit dem Ostdeutschen Kuratorium der Verbände (OKV), forderte beharrlich, dass die Fraktion eine engere Zusammenarbeit mit dem OKV herstelle, sich nachdrücklicher für die Interessen der Ostdeutschen einsetze und lauter als Stimme der Ostdeutschen vernehmbar sei. Dieser Forderung nachzukommen, erwies sich jedoch in dem Maße als schwieriger, wie die Zusammensetzung der Fraktion sich änderte, die Mehrheit der Abgeordneten und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Westen kam und dies alles mit einer Verjüngung einherging, in deren Folge Modrows Positionen weniger Beachtung fanden. So endeten immer mehr dieser Gespräche auch in Enttäuschung.

Dennoch bleiben sie mir unvergessen, denn sie waren Lehrstücke in konzentrierter, ergebnisorientierter Beratung. Immer hatte Modrow einen Bogen Papier vor sich liegen, auf dem er einen Zeitstrahl entwickelte, den er mit den erforderlichen Daten versah, um dann die zu erfüllenden Aufgaben und die Namen der jeweils Verantwortlichen zuordnen zu können. Immer verfolgte er eine Strategie, immer verband er sie mit einzelnen Taktiken, und immer legte er Wert auf diese Begriffe und den Zusammenhang zwischen beiden. Dieses wohlstrukturierte Arbeiten blieb so typisch für ihn bis zum Schluss wie die freundliche Bestimmtheit, mit der er es meist betrieb.

VII

Meine letzte Begegnung mit ihm hatte ich im Juli 2021. Da fand in Berlin auf Einladung der Modrow-Stiftung aus Anlass des 100. Jahrestages der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas eine „Werkstattgespräch“ genannte ganztägige Beratung zur Entwicklung der VR China und ihrem Platz in der Welt statt. Das Ergebnis ist von Michael Geiger als Buch unter dem Titel „Chinas Jahrhundert“ herausgegeben worden. Der Band umfasst zwölf Beiträge. Mein Aufsatz heißt „100 Jahre Gongchandang – ein Menschheitsereignis“; Modrows Beitrag, den Band beschließend, trägt die Überschrift „Die politische Praxis als die Kunst des Möglichen“. Das sei ihm – so Modrow im ersten Satz – „vom Veranstalter vorgegeben“ worden, und er habe zwei Zitate gefunden, mit denen er den Bezug zu seinen Ausführungen herstellen wolle: erstens „mit dem bekannten Appell“ des ihm „aus verschiedenen Gründen nahestehenden Che Guevara, der alle Kräfte mit einem Paradoxon mobilisieren wollte: ‚Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche‘“; und zweitens mit der Otto von Bismarck zugeschriebenen Formulierung, wonach „die Politik die Kunst des Möglichen“ sei (S. 213f.).

Modrows Beitrag liest sich heute wie ein Vermächtnis. Er umgreift in wenigen Sätzen die Geschichte der DDR – „Der Kalte Krieg war eine Auseinandersetzung zweier politischer Systeme, dem das gesamte gesellschaftliche Leben der DDR unterworfen war. Das wiederum erlaubte es uns nur eingeschränkt, den Sozialismus aufzubauen, zumal, was wir heute klarer als damals sehen, dies kaum möglich war, wenn die ganze übrige Welt kapitalistisch ist. […] Es galten im Wesentlichen auch bei uns die ökonomischen Regeln, die der kapitalistische Weltmarkt vorgab. Unter diesen Umständen mutet es wie ein Wunder an, dass die DDR trotzdem vier Jahrzehnte durchgehalten hatte“ (S. 214) –, und beschreibt nüchtern, dass es im Herbst 1989 „nur noch um Schadensbegrenzung“ gehen konnte, „denn die Geschichte hatte ‚Deutschland, einig Vaterland‘ auf die Tagesordnung gesetzt“, und ihm – Modrow – „war die Aufgabe zugefallen, den Übergang zu gestalten“ (S. 215). Den Weg der LINKEN betreffend warnt er nachdrücklich davor, den Forderungen aus anderen Parteien, in der Außenpolitik endlich „regierungsfähig“ zu werden, nachzugeben, denn diese seien doch im Klartext nichts anderes als der Ruf „Stimmt zu, dass die Bundesrepublik sich weiterhin in Nibelungentreue unterwürfig zum transatlantischen Kriegsbündnis bekennt“ und „stützt dessen aggressives Handeln gegenüber Russland in Europa und gegen China in Asien“ (S. 221).

Eine besondere Qualität seiner die persönliche solidarisch-kritische Sympathie nie leug-nenden Wortmeldung zu China besteht darin, dass er sie mit über Jahrzehnte hinweg Selbst-erlebtem zu verbinden vermag. So schildert er in seinem Text sein Zusammentreffen mit dem Generalsekretär der KPCh Zhao Ziyang in Dresden im Juni 1987, bei dem er das Gespräch auch auf seinen Besuch in China im Jahre 1959 hatte bringen können und daraufhin prompt für 1988 zu einem neuerlichen solchen Besuch eingeladen worden war. Es sollte nicht der letzte bleiben. Auch nach 1989/1990 hat Modrow das Land mehrfach bereist – immer voller poli-tischer Neugier und Lust auf Erfahrungsaustausch. 2021 hat er darüber ein Buch mit dem Titel „Brückenbauer. Als sich Deutsche und Chinesen näher kamen. Eine persönliche Rückschau“ verfasst. Einige seiner Bücher – darunter auch der Band „Chinas Jahrhundert“ – wurden ins Chinesische übersetzt.

VIII

Apropos Bücher: Hans Modrow hat davon eine für Politiker ungewöhnlich große Menge ent-weder selbst verfasst oder in Kooperation mit anderen erarbeitet, und sie alle bilden eine einzigartige Quelle für die Befassung mit der Geschichte der DDR und der kommunistischen Bewegung. Ich will sie im Folgenden nennen, ohne doch einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können.

An zweien dieser Bücher war ich beteiligt, und zwar – wie es der Zufall will – am (ver-mutlich) ersten 1983/84 und dem letzten 2021. Das soll genauer beschrieben sein.

Nicht als Autor habe ich am ersten meinen Anteil gehabt, sondern als Mittelsmann für die Herausgabe des Werkes in japanischer Sprache. Seine weiter oben schon genannte Rolle als Vorsitzender der Parlamentarischen Freundschaftsgruppe DDR-Japan der Volkskammer wahr-nehmend, hatte Modrow die Japan-Kennerinnen und -Kenner Jürgen Berndt, Hans-Martin Geyer, Monika Goldschmidt, Otto Mann und Renate Ruttkowski im Nachgang zum Besuch Erich Honeckers in Japan im Mai 1981 in einem von ihm geleiteten Kollektiv zusammengeführt und mit ihnen gemeinsam einen schmalen, aber sehr gehaltvollen Band mit dem Titel „Die DDR und Japan“ verfasst. Es ist dort viel Interessantes über die Entwicklung der deutsch-japa-nischen Beziehungen seit dem 17. Jahrhundert ebenso zu erfahren wie über japanische Tradi-tionen, Geschichte und die seinerzeit aktuellen Entwicklungen, und im Klappentext findet sich das Credo, dass mit dem Buch beigetragen werden solle zur Verwirklichung eines „grund-legenden Prinzips der sozialistischen Außenpolitik der DDR“, nämlich der „Durchsetzung von Beziehungen friedlicher Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsord-nung“. Das alles war so lesenswert dargestellt, dass sich der japanische Verlag Simul Press zu einer Herausgabe in japanischer Sprache unter dem Titel „Tokute chikai futatsu no kuni – Higashi Doitsu to Nihon“ (Zwei ferne Länder, die sich nah sind – Ostdeutschland und Japan) entschloss. Mir fiel die Aufgabe zu, in Tokio die notwendigen Gespräche mit Katsuo Tamura, dem Chef von Simul Press, zu führen.

Die nächsten Bücher folgten erst ein Jahrzehnt später, dann aber in rascher Folge. Es war, als ob sich nach der unerhört ereignisreichen und arbeitsintensiven Regierungszeit und den politisch sehr belastenden Jahren im Bundestag 1990-1994 plötzlich die Schleusen fürs Berich-ten, Erzählen und Reflektieren öffneten, und Modrow wurde zu einem hochproduktiven Chro-nisten sowohl seines eigenen Lebens wie auch der Gesellschaft, in der er lebte, und der Partei, mit der er stets verbunden war.

1994 versammelte er als Herausgeber leitende Mitarbeiter aus dem Apparat des ZK der SED für ein Buch mit dem Titel „Das Große Haus“, und 1996 tat er dasselbe mit Menschen, die in leitenden Funktionen außerhalb des ZK tätig waren, für den Band „Das Große Haus von außen“. Beide Sammelbände sind unverzichtbare Zeugnisse der Arbeitsweise der politischen Entscheidungszentrale der DDR geworden.

1998 schilderte er in Zusammenarbeit mit Hans-Dieter Schütt in einem fast 500 Seiten starken Buch mit dem Titel „Ich wollte ein neues Deutschland“ sein Leben. Das Werk ist prall gefüllt mit Informationen und spannenden Details zur Entwicklung der DDR insgesamt und selbstverständlich insbesondere zu den Jahren 1989/90. Modrows Darstellung der Verhältnis-se und seines eigenen Weges darin ist geprägt von hoher Sachkenntnis, sympathischer Offenheit und oft schmerzhafter, tief unter die Haut gehender Sozialismus- und Selbstkritik.

2007 folgte ein weiteres autobiografisches Buch, diesmal überschrieben mit „In histo-rischer Mission. Als deutscher Politiker unterwegs“. Sein Inhalt sind Modrows zahlreiche, mit ungezählten politischen Verhandlungen, Gesprächen und Alltagsbegegnungen erfüllten Aus-landsaufenthalte in Europa, Ostasien und Lateinamerika, und wer glaubt, das seien alles Geschichten aus längst vergangener Zeit und ohne Belang fürs Heute, der schaue in das Kapitel „Deutsche und Russen – ein Jahrhundertproblem“.

Mit all dem war aber das Spektrum des Erzählens und Reflektierens noch nicht aus-geschöpft. 2010 veröffentlichte Gabriele Oertel ein Buch mit dem Titel „Hans Modrow. Sagen, was ist“, und dessen Besonderheit besteht darin, dass die Autorin den in ausführlicher Befra-gung Modrows entstandenen Kapiteln „Ins neue Deutschland“, „In Dresden“, „Mit der Sowjetunion“, „Der Ministerpräsident“ und „Die Linke in Deutschland“ Interviews mit Dritten beifügte, deren Überschriften aus Urteilen der Befragten über Modrow bestehen und die darum hier ebenfalls zitiert seien: „Die Töchter: ‚Kein 08/15-Politiker‘“; „Mitarbeiter in Dresden: ‚Im Vergleich unvergleichlich‘“; „Valentin Falin: ‚Ich mag seine Offenheit für den Dialog‘“; „Manfred Stolpe: ‚Die Leitfigur einer Reform‘“; „Egon Bahr: ‚Das Gegenteil einer Wetterfahne‘“.

Auch den Kampf um das Gesicht und die Kraft der sozialistischen Opposition führte Modrow gern mit dem geschriebenen Wort. 2005, als die PDS gemeinsam mit der in West-deutschland gegründeten Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) für den Bundestag kandidierte und damit ein neues Kapitel in der Entwicklung der linken Opposition in Deutsch-land aufschlug, schrieb er gemeinsam mit dem aus der WASG gekommenen einstigen SPD-Funktionär Ulrich Maurer das Buch „Überholt wird links. Was kann, was will, was soll die Linkspartei?“, und 2006 gab er – wiederum gemeinsam mit Maurer – den Band „Links oder lahm? Die neue Partei zwischen Auftrag und Anpassung“ heraus. 2013 fand er sich mit Gregor Gysi zu einer von Frank Schumann moderierten Debatte zusammen, die unter dem Titel „Ostdeutsch oder angepasst. Gysi und Modrow im Streitgespräch“ gedruckt wurde.

Es folgten 2021 die beiden schon genannten Bücher zum China-Thema mit der Möglichkeit für mich zu neuerlicher Zusammenarbeit.

IX

Natürlich gibt es zu Hans Modrow noch viel mehr zu sagen als das, was ich hier mitzuteilen unternommen habe. Seine Gegnerinnen und Gegner – natürlich – fällen andere Urteile als seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter, Freundinnen und Freunde. Die Fülle der Nachrufe in den Medien des bürgerlichen Machtblocks spricht auf ihre Weise von der Bedeutung, die Modrow in der deutschen Geschichte erlangt hat – auch und gerade, weil er seinen Über-zeugungen trotz allen Gegenwinds in produktiver, immer kommunikationsbereiter Weise treu geblieben ist.

Modrow wusste immer, was Klasseninteressen sind und dass es notwendig ist, sie in der Auseinandersetzung der Klassen gegenüber den anderen zu vertreten – selbstverständlich um den Preis der entsprechenden Gegnerschaft. Das galt für ihn auch in der PDS und dann der LINKEN, und das brachte ihn in einen langwierigen und fortwährenden Widerspruch mit all denen, die aus welchen Gründen auch immer glaubten und glauben, dass das mit den Klassen-interessen irgendetwas Überlebtes, Altmodisches, längst nicht mehr Gültiges sei.

Modrow war stets bereit, sich darüber gründlich auseinanderzusetzen. Gründlich, das heißt: nicht in twitterförmigen Kurzmeldungen, nicht zwischen Tür und Angel oder gar auf dem Umweg über Wortmeldungen in dieser und jener Zeitung oder Fernsehsendung, sondern in wirklicher, wissenschaftliche Vorbereitung voraussetzender, alle der Ernsthaftigkeit des Pro-blems angemessene Zeit in Anspruch nehmender Debatte. Damit stieß er an die schier unüber-windlichen Schranken der in den bürgerlichen Parlamentarismus hineingewählten und in dessen Zeit- und Aufgaben- und Kommunikationsmanagement verstrickten Partei.

All dies zusammengenommen entwickelte sich eine komplexe Konfliktlage, die sich schon Mitte 1990 – und zwar ausgerechnet im Verhältnis zwischen Modrow und der anderen Schlüsselfigur des Parteiumbruchs Gregor Gysi – abzuzeichnen begann. Zwanzig und dreißig Jahre später, also 2010 oder 2020, waren Modrows Antipoden naturgemäß andere geworden, aber das Grundproblem hat Frank Schumann, der sich um die Publikation vieler der Bücher von Hans Modrow verdient gemacht hat, in der Einleitung zum Buch „Ostdeutsch oder angepasst. Gysi und Modrow im Streitgespräch“ doch treffend umrissen: „Als Gysi Vorsit-zender der SED wurde, war Modrow Ministerpräsident – der eine war für eine Partei, der andere für einen Staat verantwortlich. Dann gab es den Beitritt und eine größere Bundes-republik, in der Gysi die linke Opposition aus dem Osten führte und Modrow nur noch der namhafte Exponent des untergegangenen ‚Unrechtsstaates‘ war. Gysi sicherte mit Intelligenz, Cleverness und Witz die Existenz der Partei – Modrow hingegen war zur Belastung geworden. Er hatte im ZK der SED immerhin eine Abteilung geführt und mehr als anderthalb Jahrzehnte eine Bezirksleitung.“ (S. 15)

Eine Belastung.

Ja, Modrow trug die DDR auf ganz andere Weise in sich als Gysi. Vom Alter her und erst recht im Politischen, und natürlich bot er dem Machtblock viel mehr Angriffsfläche und viel mehr Gelegenheit, mit seiner Person die ganze Partei zu treffen und damit bei Vielen vor allem unter den Jüngeren das Gefühl zu erzeugen, ohne ihn würde vielleicht alles viel leichter gehen. Und wenn das nun schon Gysi so empfand, der doch nur 18 Jahre weniger zählte als Modrow und wie dieser eine DDR-Karriere – wenn auch eine viel kürzere – hinter sich hatte: Um wieviel tiefer musste die Kluft werden, die sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten  zwischen Modrow und den 40, 50, 60, ja 70 Jahre Jüngeren, die die DDR nur noch kurz oder gar nicht mehr erlebt hatten oder ohnehin aus dem Westen kamen, auftat! Eine Kluft in Erfahrung, Wissen, Weltanschauung, eine Kluft auch in den Lese- und Lern- und Kommunikations-methoden und -gewohnheiten, deren immer weitere Vertiefung befördert wird durch ein Bildungs- und Informationswesen, in dem – natürlich aus Gründen des Klassenkampfes! – die sozialistische DDR fast immer nur als Inkarnation des Bösen schlechthin, aber so gut wie nie als integraler Bestandteil der durch Systemkonfrontation und Kalten Krieg geprägten Ent-wicklung Deutschlands, Europas und der Welt in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun-derts auftaucht und damit auch so gut wie nie als Quell einer synergetischen Zusammen-führung unterschiedlicher gesellschaftlicher Erfahrung betrachtet wird.

Weiter oben habe ich geschrieben, dass Modrows Text im Buch „Chinas Jahrhundert“ wie ein Vermächtnis klingt. Dies zu unterstreichen, will ich hier eine weitere Passage zitieren. „Wenn DIE LINKE“, so schrieb er 2021, „ihren letzten verbliebenen Markenkern opfert, indem sie ihre konsequente Antikriegsposition aufgibt, bleibt kein Grund mehr, sie zu wählen. Denn alles andere, was sie sich auf ihre Wahlplakate schreibt, vertreten auch die bürgerlichen Parteien. DIE LINKE bleibt entweder klare Friedenspartei, oder sie bleibt nicht!“ (S. 221)

Ganz im Sinne dieser Überzeugung hat er im März 2022, wenige Tage nach dem Beginn der Invasion Russlands in der Ukraine am 24. Februar, in Vorbereitung zu erwartender Diskus-sionen einige Gedanken notiert, zu denen auch die Überlegung gehörte, dass, wer diesen Krieg richtig verstehen wollte, seine Vorgeschichte in die Beurteilung einbeziehen musste, und dabei natürlich insbesondere die Entwicklung in den Jahren seit 2014, in denen im Osten der Ukraine ein Bürgerkrieg tobte, zu dessen friedlicher Beilegung eigentlich der Rahmen des Minsker Abkommens geschaffen worden war, aber die NATO gleichzeitig enorme Anstrengungen zur militärischen Stärkung der Regierung in Kiew und zur Verstetigung ihres Konfrontationskurses gegenüber Russland unternommen hatte.

Dabei wusste er genau, dass die Zeichen, die Bundeskanzler Scholz mit seiner „Zeiten-wende“-Rede vom 27. Februar gesetzt hatte, genau ins Gegenteil wiesen: nämlich die Ausblen-dung eben dieser Vorgeschichte. „Zeitenwende“: Dieser Begriff hatte nur Sinn, wenn der Überfall der russischen Truppen als einer betrachtet wurde, der quasi voraussetzungslos aus dem Nichts gekommen war. Nur dann ließ sich die Tragweite der Entscheidungen, die sich mit der „Zeitenwende“ verbanden – also insbesondere die sofortige umfassende Parteinahme für die Ukraine, die jedes Agieren Deutschlands als Vermittler von vornherein und auf lange Sicht ausschloss, und der Beschluss über das 100-Milliarden-Euro-Rüstungsprogramm – rechtfer-tigen. Dieser Zusammenhang – so war sich Modrow sicher – musste durch seine Partei, die linke Opposition, offengelegt werden, denn nur dann trat zutage, dass der Krieg in seinem Wesen in einem Aufeinanderprallen imperialistischer Herrschaftsinteressen besteht und linke Opposition daher für einen sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen eintreten muss – und zwar in konsequenter Kritik auch der eigenen Regierung.

Aber die Führung der LINKEN sah das anders und nahm eine Information der bürgerlichen Medien über Modrows Beratungsnotizen zum Anlass, ihn – ihren einstigen Ehrenvorsitzenden – nicht mehr als Vorsitzenden des Ältestenrates zu akzeptieren. Diese Absage an Modrow war zugleich eine Absage an eine entschlossene „Krieg dem Kriege“-Position, und es offenbarte sich in ihr ein Riss, der in dieser Frage durch die ganze Partei geht und sie tatsächlich – wie von Modrow im Sommer 2021, mithin schon Monate vor dem russischen Überfall, vorausgesehen hat – in ihrer Existenz gefährdet.

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Wie diese Entwicklung weitergeht, ist, da diese Zeilen zu Papier gebracht werden, natürlich nicht abzusehen. Als sicher aber darf gelten, dass Hans Modrow auf gleich zweifache Weise bedeutsame Spuren hinterlassen hat: mit seinem politisches Handeln, das in dramatischer Zeit den Frieden sichern half, und mit seinem politischen Schreiben. Seine Bücher sind ein großes, vielleicht erst mit einigem Abstand sich wirklich erschließendes Geschenk für all diejenigen unter den Nachkommenden, die wissen wollen, woher sie gekommen sind und was es auf sich hatte mit dem kleinen zweiten deutschen Staat DDR und seinem aus vielerlei Gründen nach sowjetischem Vorbild errichteten und vom größeren deutschen Nachbarn unablässig be-kämpften Sozialismus.

Aber die Bücher sind nicht erst ein Geschenk für die Künftigen, sondern auch schon für die Heutigen, die auf ihr eigenes Leben zurückblicken und sich mit Modrow erinnern wollen ans Ja- und ans Nein-Sagen, an überzeugtes Handeln und Anpassung, Begeisterung und Depression, Aufschwung und Stillstand, Kollektivität und Individuelles, Freude und Traurigkeit, Optimismus und Verbitterung, erfüllte und unerfüllte Wünsche, Utopien und Erstarrung, Sieg und Niederlage.

Ich bin dankbar, dass ich Hans Modrow kennenlernen und in gemeinsamem Tun erleben durfte.